Hamburg. Am Montagabend wurde die „Concord Sonate“ für Klavier, Flöte und Bratsche im Großen Saal gegeben – und auch der Zufall spielte mit.

Das war die richtige Antwort. Ganz zart beginnt „Scrivo in vento“ von Elliott Carter für Flöte solo, da hustet, nein, prustet jemand vehement in die Pause. Und der Flötist? Spuckt einen Fortissimo-Ton in die Weite des Großen Saals der Elbphilharmonie, dass die Zuhörer lachen. Der Zufall bewährt sich mitunter gar nicht schlecht als Dramaturg.

Es wird nicht das einzige Fortissimo bleiben, das da gleichsam aus dem Hinterhalt geschossen kommt. Carter erkundet in den wenigen Minuten Spieldauer die dynamischen Extreme des Instruments, und der Interpret Adam Walker ruft mit seinem wandelbaren, überaus beseelten Ton lauter Naturbilder im Kopf des Hörers wach. Wenn er sich zwischen Doppelklängen und blitzartigen Läufen kurz nach innen wendet, dann klingt das wie ein sehr intimer menschlicher Fragelaut.

Boulez, Messiaen, Ligeti – er kannte sie alle

So hat Walker das zu Konzertbeginn mit „Density 21.5“ von Edgar Varèse aus dem Jahre 1936 gemacht, einem weiteren Schwergewicht der amerikanischen Moderne. Varèse mag ein lustvoller Experimentator und Wegbereiter der Avantgarde gewesen sein; dennoch erinnert seine Miniatur immer wieder an Debussy, dem der gebürtige Franzose Varèse sein musika­lisches Erweckungserlebnis verdankte.

Walker hat zum ganzen Abend kaum eine Viertelstunde Musik beizutragen, aber was für welche! Im Zen­trum des originellen Programms steht der Pianist Pierre-Laurent Aimard, der Neuen Musik seit jeher verbunden. Boulez, Messiaen, Ligeti – er kannte sie alle. Unter seinen Fingern werden auch ungewohnte Klänge zu einer unmittelbar verständlichen Sprache.

Stern am Bratschenhimmel

Die Sonate für Viola und Klavier von Schostakowitsch ist dessen letztes Werk, tonal und erholsam frei von jenem Dauersarkasmus, mit dem der Komponist sich schreibend von seinem Stalin-Trauma befreite. Die Bratschistin Tabea Zimmermann, seit Jahrzehnten der strahlendste Stern am Bratschenhimmel, singt und tanzt und ist zugleich entrückt und ganz bei sich. Anders darf man so ein klingendes Vermächtnis einfach nicht spielen. Zimmermanns Ton leuchtet farbig und klar. Man würde die Künstlerin unter Dutzenden Kollegen daran wiedererkennen, wie wohldosiert sie ihr Vi­brato einsetzt, wie sie die Töne aufblühen, aber auch mal herbe und gerade stehen lässt.

Schluss- und Höhepunkt dieses Abends voll Geist und Tiefsinn und ganz ohne ausgestellte Virtuosität ist die Sonate „Concord, Mass., 1840– 1860“ für, sagen wir, überwiegend Klavier, von Charles Ives, dem die Elbphilharmonie zurzeit einen Schwerpunkt widmet. Über die vier Sätze hinweg wuchtet Aimard Akkorde in die Tasten, für die man wahrscheinlich eher 20 als zehn Finger bräuchte, er lässt immer wieder Beethoven am Horizont aufscheinen, lange bevor Ives dessen „Mondscheinsonate“ zitiert, er schichtet Ragtimes über Chopin-Anklänge und schlägt mehrere Tempi gleichzeitig an.

Der Epilog gehört Aimard

Und immer hat man das beglückende Gefühl, unmittelbar angesprochen zu werden von diesem asketisch wirkenden Mann mit seinem hellen, klaren Klavierton. Zwischendurch traumwandelt Tabea Zimmermann mit einigen klingenden Seufzern über die Bühne, und gegen Ende schickt Adam Walker noch eine nächtlich versunkene Flötenmelodie vom Rang herab. Der Epilog aber gehört Aimard, mit Glockengeläut in der Tiefe und einer Tongirlande, die sich unbestimmt in der Höhe verliert wie ein Vogel am Nachthimmel.