Hamburg. Starke Bilder, starke Schauspieler: Mit „Der Mann in’n Stroom“ feierte die Geschichte des Tauchers Hinrichs in Hamburg Uraufführung.
Dieses Mal geht kein Vorhang auf. Bevor die Premiere von „De Mann in’n Stroom“ im Ohnsorg-Theater beginnt, laufen auf einer Leinwand historische schwarz-weiße Ansichten des Hamburger Hafens. Schwere Schäden an den Anlagen sind zu erkennen, aber auch das neu erwachte Leben an den Kais; von einem Passagierschiff winken die Abreisenden mit weißen Taschentüchern. Die Aufnahmen stammen aus den 50er-Jahren, nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ist Hamburg im Wiederaufbau, der Hafen ist das Herz der Stadt. Über diese Zeit hat Siegfried Lenz den Roman „Der Mann im Strom“ geschrieben, der aus der Erzählung „Das Wrack“ hervorgegangen ist.
Lenz erzählt darin die Geschichte des arbeitslosen Tauchers Hinrichs. Obwohl überall nach Arbeitskräften gesucht wird, ist Hinrichs von der Aufbruchstimmung ausgenommen. „Ich gehöre zum alten Eisen“, sinniert er. Als Taucher ist er zu alt, um auf dem Elbgrund Wracks zu untersuchen und zu sprengen und im Fahrwasser wieder Platz für moderne Schiffe zu schaffen. Deshalb fälscht er sein Taucherbuch und seine Geburtsurkunde. Er macht sich ein paar Jahre jünger, um in der Firma von Iversen einen Job zu bekommen. Aus der 180 Seiten langen Romanvorlage hat Frank Grupe, bis zur vergangenen Saison Oberspielleiter am Ohnsorg, eine kompakte plattdeutsche Theaterfassung gemacht, die sein Nachfolger Murat Yeginer in einer gefeierten Uraufführung auf die Bühne am Heidi-Kabel-Platz gebracht hat.
Der Kiez wird mit etwas Rotlicht und Schlagermusik
Yeginer schafft es, mit vielen kurzen Szenen und starken Bildern die Atmosphäre der damaligen Zeit einzufangen. Behilflich sind dem Regisseur die Videoeinspielungen von Carsten Woike und Jürgen Höths Bühnenbild. Dank des gekonnten Einsatzes der Drehbühne verwandelt sich die Szenerie von Hinrichs’ karger Wohnung in einen Hafenkai oder in den Fuß des Bismarck-Denkmals, in dem Obdachlose hausen. Auch der Kiez wird mit etwas Rotlicht und Schlagermusik schlaglichtartig präsent. Sehr stark wirken die Unterwasseraufnahmen von Hinrichs. Auf der Leinwand ist nur sein Gesicht in einer altertümlich wirkenden Taucherglocke zu sehen, aber auch seine Angst, denn die Tauchgänge zu den versenkten Schiffen sind extrem gefährlich.
Till Huster ist „Der Mann in’n Stroom“. Er spielt Hinrichs als rechtschaffenen Mann, der aus einer Not heraus Urkundenfälschung begeht. Hinrichs lebt allein mit seinem zwölfjährigen Sohn Timm (Nikolai Lang) und Tochter Lena (Karina Rudi). Huster zeigt die Verzweiflung seiner Figur und deren Willen, für sich und seine Familie zu kämpfen. Sein Satz „De Minsch mutt leven“, bringt die Not auf den Punkt. Einen Freund findet Hinrichs in seinem Kollegen Kuddl Sommer, den Oskar Ketelhut mit norddeutscher Gelassenheit spielt. Wie ein Hamburger Original wirkt auch der massige Horst Arenthold als Taucher-Chef Iversen. Ein Ohnsorg-Original ist Arenthold ohnehin.
Über den Dom hopsen und die Sorgen hinter sich lassen
Ein paar starke Szenen hat Vasilios Zavrakis als Manfred. Er ist der etwas zwielichtige Freund von Lena, der versucht auf die krumme Tour das schnelle Geld zu machen. Karina Rudi dagegen übertreibt ihr hysterisches Spiel etwas zu sehr. Eine großartige Szene gelingen ihr und Huster jedoch, wenn sie über den Dom hopsen und ihre Sorgen für ein paar Stunden hinter sich lassen.
Sebastian Herrmann, Christian Richard Bauer und Marco Reimers müssen fast ein Dutzend verschiedene Rollen übernehmen. Auch sie fügen sich in das starke Ensemble und lassen so einen kompakten Theaterabend mit viel Hamburger Lokalkolorit entstehen. Eine Entdeckung ist der erst 13-jährige Nikolai Lang, der Sohn des Intendanten Michael Lang, als Hnrichs’ Sohn Timm. Er ist verliebt in die Schlager der damaligen Zeit, sein Kofferradio nimmt er sogar mit ins Bett, um noch unter der Bettdecke neue Hits zu hören. Diese Schlager sind das Gegenteil der Tristesse in Hinrichs’ Wohnung, in ihnen wird eine heile Welt beschworen, die weit entfernt von der rauen Wirklichkeit in der zerbombten Stadt ist. Aber Timm ist die optimistische Personifikation einer neuen Zeit. In den 60er-Jahren wird er als junger Mann am deutschen Wirtschaftswunder beteiligt sein.
Ohnsorg entfernt sich vom schenkelklopfenden Volkstheater
Unter Langs Intendanz entfernt sich das Ohnsorg immer weiter vom schenkelklopfenden Volkstheater mit Komödien und Schwänken. Worüber niemand traurig sein muss. Mit Murat Yeginer hat Lang einen Regisseur in verantwortlicher Position an seine Bühne geholt, der Geschichten erzählen kann. Das tut er – wie in „De Mann in’n Stroom“ zu sehen – mit modernen Mitteln wie dem sinnvollen Einsatz von Videos und einem raffinierten Bühnenbild. Mit Huster, Ketelhut und all den anderen Protagonisten aus dem Ensemble verfügt das Ohnsorg über eine Schauspieler-Riege, die den neuen Herausforderungen entspricht und diese umzusetzen versteht. Lang bereitet das Ohnsorg behutsam auf einen Generationenwechsel vor. Mit der aktuellen Inszenierung sind er und Yeginer auf diesem Weg wieder einen großen Schritt vorangekommen.
„De Mann in’n Stroom“ bis 9.11., Ohnsorg-Theater (U/S Hbf.), Heidi-Kabel-Platz 1, Karten 16,- bis 31,-: T. 35 08 03 21; www.ohnsorg.de