Hamburg. Der Hamburger Mäzen unterstützt Intendant Axel Schneider dabei, Walter Kempowskis „Deutsche Chronik“ auf die Bühne zu bringen.

Es ist ein wahres Mammutvorhaben, das sich das Altonaer Theater in diesem Herbst vorgenommen hat. Neun Bände hat Walter Kempowskis Roman-Zy­klus „Die deutsche Chronik“, alle hat der Intendant und Regisseur Axel Schneider für das Theater bearbeitet, alle will er nach und nach auf die Bühne hieven. An diesem Wochenende startet Schneiders „Kempowski-Saga“, die Inszenierungen „Aus großer Zeit“ und „Tadellöser & Wolff“ machen den Anfang.

Unterstützt wird das aufwendige Projekt von Jan Philipp Reemtsma und seiner Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Reemtsma, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg, schaute immer wieder bei den Proben vorbei und unterstützt Schneider mit seinem Fachwissen. Der Literaturwissenschaftler gilt als profunder Kenner von Kempowskis Werk. Das Abendblatt hat Reemtsma im Büro seiner Stiftung in Rotherbaum getroffen. Im Interview spricht er über Kem­pows­kis literarische Qualität und die Schwierigkeit, die Romane auf die Bühne zu bringen.

Mit welchem Roman sollten Leser, die sich noch nie mit dem Werk beschäftigt haben, bei Walter Kempowski einsteigen?

Jan Philipp Reemtsma: Wenn sich ein Leser mit der „Deutschen Chronik“ beschäftigt, würde ich immer „Tadellöser & Wolff“ empfehlen, weil es der schriftstellerische Beginn ist und den Ton angibt. Eine Besonderheit im Gesamtwerk sind die letzten beiden Romane. „Alles umsonst“, 2006 erschienen, ist ein grandioser Roman, in dem es um die letzten Kriegswochen 1945 geht. Das davor erschienene Buch „Letzte Grüße“ ist eine Reise von Kempowskis literarischem Alter Ego, das von Goethe-Institut zu Goethe-Institut durch die USA stolpert. Es ist ein ungeheuer komischer, aber auch melancholischer Roman.

Abendblatt-Aktion

Die Fernseh-Verfilmung von „Tadellöser & Wolff“ war in den 1970er-Jahren ein Straßenfeger. Worin lag die Faszination?

Reemtsma: Das war ein großartiger Film mit großartigen Schauspielern, die ein wunderbares nostalgisches Gefühl bedienten. Kempowski schätzte die Verfilmung. Der Schauspieler Karl Lieffen sei ihm wie sein Vater vorgekommen. Er wusste aber, dass die Verfilmung seinen Büchern nicht bekommen ist. Die Zuschauer hatten bekommen, was sie wollten und schenkten sich die Lektüre.

Was war Ihr erster Gedanke, als Axel Schneider mit der Idee zu Ihnen kam, Kempowskis komplette „Deutsche Chronik“ am Altonaer Theater zu inszenieren?

Reemtsma: Mutig. Er hat ja Erfahrung mit Kem­pows­ki-Texten, und er weiß um die Hauptschwierigkeit. Er muss etwas auf die Bühne bringen, das in sich keine theatralische Spannung hat. Die dramaturgische Hauptaufgabe wird sein, den epischen Erzählfluss in eine Form zu bringen, die auf dem Theater funktioniert. Ob sie gelingt, werden wir bei der Premiere sehen. Ich bin guten Mutes, denn Axel Schneider weiß, was er tut.

Wie unterstützen Sie Schneider?

Reemtsma: Ich kann nicht bei jeder Probe dabei sein. Doch es ist ganz nützlich, andere Meinungen einzuholen. Wie ist eine Passage zu verstehen und wie ist sie zu sprechen? Wie ist die Spannung zwischen den handelnden Personen? Es kann hilfreich sein, wenn jemand dabei ist, der das Werk kennt und dem dazu etwas einfällt. Ob es etwas genützt hat, das fragt am Ende niemand mehr. Ich hoffe, ich kann ein bisschen helfen.

Was macht die Qualität der Romane von Kempowski aus? Ist es die realistische Schreibweise?

Reemtsma: Schreibt er realistisch? Was heißt das denn? Was die „Deutsche Chronik“ angeht, ist es vor allem eine Darstellung von Gegenwart auf indirekte Weise. Wir erleben das Reden von Personen über das, was passiert. Was diese Personen sehen, wie sie darauf reagieren. Das ist im Grunde genommen nicht das, was man normalerweise unter Realismus versteht. Es ist eine sehr indirekte Art und Weise, Wirklichkeit zu erfassen und sie darzustellen. Kempowski ist nicht der Einzige, der so etwas macht, aber er hat es zu seinem eigenen Stilmittel mit einer hohen Virtuosität gemacht.

Eine Szene aus der Bühnenversion von „Aus großer Zeit“
Eine Szene aus der Bühnenversion von „Aus großer Zeit“ © Bo Lahola

Wie nah standen Sie Walter Kempowski?

Reemtsma: Ich habe ihn kennengelernt, weil wir beide Arno Schmidt als Autor sehr schätzten. Ich habe ihn ein paar Mal besucht, auch noch im Krankenhaus in Rotenburg. Auf einer Tagung, an der er selbst teilgenommen hat, habe ich einen Vortrag über ihn gehalten, der ihm, glaube ich, sehr gefallen hat. Und ich habe ihn nach Hamburg in eine Vorlesung eingeladen.

Wie war die Begegnung mit den Studenten?

Reemtsma: Das war ihm nicht neu, er kannte sowas. Aber man merkte ihm an, dass er Lehrer gewesen war, und das machte die Sache, sagen wir: schwierig. Kempowski war jemand, der sehr unter dem Eindruck litt, nicht anerkannt zu sein und nicht seiner Bedeutung gemäß gelesen zu werden. Mit diesem Vorurteil kam er nicht nur in die Vorlesung, sondern häufig auch zu Interviews. Er hatte immer das Gefühl, er müsse gegen etwas ansprechen.

Bei der aktuellen Kempowski-Inszenierung fungieren sie als eine Art Berater. Würde es sie reizen, selber zu inszenieren?

Reemtsma: Ja. Vielleicht bin ich aber nicht der Richtige, um mit einer Gruppe zu arbeiten und Tag für Tag denselben Text einzuüben. Aber reizen würde es mich durchaus.

Welches Stück?

Reemtsma: Shakespeares „Richard III.“. Obwohl es keine guten Frauenrollen hat.

Haben Sie am Thalia Theater die „Richard“-Inszenierung von Antú Romero Nunes gesehen?

Reemtsma: Nein. Ich habe eine ganz genaue Vorstellung, wie die Inszenierung aussehen müsste. Und wenn ich dann etwas anderes sehe, ärgere ich mich. (lacht)

„Aus großer Zeit“ Premiere Sa 22.9., 20.00 „Tadellöser & Wolff“ Premiere So 23.9., 19.00, Altonaer Theater, Karten u. a. in der Abendblatt-Geschäftsstelle