Hamburg. Im Altonaer Theater kommt die komplette „Deutsche Chronik“ auf die Bühne. Vorher traf das Ensemble die Witwe ihres Verfassers
Auf dem Tisch stehen Plätzchen und selbst gebackener Butterkuchen. Von der Decke des hohen Raumes baumeln Schiffsmodelle, an den Wänden hängen verschiedene Stadtansichten von Rostock. Hildegard Kempowski hat zu einer Kaffeetafel ins „Rostocker Zimmer“ im Haus Kreienhoop geladen. „Toll, was ihr macht!“, lobt sie ihren Besuch aus Hamburg. Zu Gast sind Ensemble und Team des Altonaer Theaters um Intendant Axel Schneider. Sie proben gerade die Dramatisierung aller Kempowski-Romane, die unter dem Titel „Die deutsche Chronik“ zwischen 1978 und 1984 erschienen sind. Darin hat der Schriftsteller seine Familiengeschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Wirtschaftswunder in den 60er-Jahren für die Öffentlichkeit niedergeschrieben und aufgeblättert. Schneider und seine neun Schauspieler haben sich ein riesiges Projekt vorgenommen, das seine erste Premiere im September feiern wird.
Axel Schneider ist mit seiner Truppe nach Nartum gekommen, um sie näher an Kempowski heranzubringen. Sie soll sehen, wo der Schriftsteller gelebt und gearbeitet hat und aus dem Mund von Hildegard Kempowski weitere Details aus dessen Lebensgeschichte erfahren. Haus Kreienhoop liegt in Nartum, einem Dorf im Landkreis Rotenburg/Wümme, und ist Ort einer Stiftung, die Kempowski 2005, zwei Jahre vor seinem Tod, gegründet hat. Es war sein Arbeitszentrum, aber auch Ort für Autorentreffen, Literaturseminare und einen Sommerclub für Jugendliche. Diese Tradition der Gastfreundschaft und der Kulturbegegnungen setzt Hildegard Kempowski fort.
Der Rundgang durch das Haus mit seinen vielen Anbauten ist wie der erlaubte Zugang zum Intimbereich eines Künstlers. Die Schauspieler überschütten die Hausherrin mit Fragen nach Verwandtschaftsverhältnissen, sie wollen wissen, was es mit der Geige auf sich hat, die in einem der geräumigen Wohnzimmer liegt, und betrachten fasziniert die Miniaturen, die Kempowski aus Holz und Papier von der Rostocker Stadtansicht geschnitzt und geklebt hat.
„Das Miniatur Wunderland ist nichts dagegen“, kommentiert Axel Schneider die filigranen Kirchtürme und Bürgerhäuser, die in einer Glasvitrine ausgestellt sind. Sehr anschaulich erklärt Hildegard Kempowski, wann diese Arbeiten entstanden sind. Kempowskis literarisches Werk war eines der Rekonstruktion, diese maßstabsgetreuen Modelle sind ein anderer Teil der lebenslangen Erinnerungsarbeit. Als die Theatertruppe weiter durch Haus Kreienhoop geführt wird und in den Büchergang gelangt, entfährt Philip Spreen ein überraschtes „Wow!“.
Der junge Schauspieler, der in der Inszenierung einen wichtigen Part als Erzähler einnimmt, blickt fasziniert auf die 30 Meter lange Bibliothek, in der Kempowski Tausende von Büchern gesammelt hat. Auch Katrin Gerken, Tobias Dürr und andere Ensemblemitglieder bleiben in dem langen Gang stehen und schauen neugierig. Obwohl es in dem 1973 erbauten und bis zum Jahr 2000 immer wieder erweiterten Haus von Fundstücken nur so wimmelt, wirkt Kreienhoop nicht wie ein Museum.
Im „Bridgezimmer“ liegt eine CD mit Bach-Werken, gespielt von Glenn Gould, die Hildegard Kempowski kürzlich gehört hat, auf einem Tisch die örtliche Tageszeitung. Beeindruckend ist auch der große Saal mit seiner breiten Fensterfront auf der einen Seite und einer Spiegelwand auf der anderen. Mittendrin steht ein Flügel, an dem Kempowski zur Entspannung Bach, Jazz oder Volkslieder spielte. „Wenn ich mal tot bin, können sie hier eine Tanzschule einrichten“, hat er über den zwei Stufen tiefer gelegten Saal gesagt.
Eng wird es im Turm. Die außen mit Efeu bewachsene Rotunde wurde 1983 eingeweiht. Früher hat Kempowski hier seine Rostocker Erinnerungsstücke aufbewahrt, nach der Wiedervereinigung ist das runde Zimmer, das nur schmale Fensteröffnungen mit Buntglasscheiben besitzt, zu einer Bibliothek geworden, in der Kempowski ausschließlich Tagebücher aufbewahrt hat. Die Erinnerungen des von ihm verehrten Thomas Mann stehen hier ebenso wie die von Uwe Johnson und Viktor Klemperer.
Der Turm hat etwas Klaustrophobisches, doch die einzige Tür öffnet den Blick durch den Saal bis weit hinaus über die Terrasse in den westlichen Teil des Gartens. An den Wänden hängen Ahnen-Fotos, sehr genau von den Schauspielern unter die Lupe genommen. Auf dem Arbeitstisch im Saal finden Katrin Gerken und Anne Schieber einen Fotoband mit Aufnahmen aus den 20er-Jahren. Mit Hilfe von Hildegard Kempowski versuchen die Schauspielerinnen zu enträtseln, wer auf einem der Hochzeitsbilder zu sehen ist. „Ist das hier Anna?“, fragt Gerken. In der Inszenierung von „Aus großer Zeit“, dem erste Teil der „Deutschen Chronik“ spielt sie Kempowskis Großmutter. Nun hat sie Fotos dieser real existierenden Personen in der Hand, die sie auf der Bühne zu neuem Leben erwecken soll.
Der für die Gäste inspirierende Nachmittag endet im „Rostocker Zimmer“. Hildegard Kempowski liest einen Ausschnitt aus „Tadellöser & Wolff“. Schneider und Ensemble hören konzentriert zu, die Vorproben zu „Tadellöser & Wolff“ stehen an. Aber zuerst bringen sie am 22. September „Aus großer Zeit“ und „Schöne Aussicht“ auf die Bühne. Hildegard Kempowski wird dafür nach Hamburg kommen.