Hamburg. Am Altonaer Theater entsteht „Die deutsche Chronik“. Thema ist der Niedergang des deutschen Bürgertums während des 20. Jahrhunderts.

Hält der Rollstuhl auf der Schräge? Oder rollt er in Richtung Zuschauer? Eine von vielen Detailfragen bei der Bauprobe im Altonaer Theater. Bühnenbildnerin Ulrike Engelbrecht stellt dem Regieteam um Axel Schneider ihren Bühnenentwurf für das groß angelegte Kempowski-Projekt vor, das mit Beginn der kommenden Spielzeit in Altona Premiere feiern wird: Intendant Schneider will Kempowskis Roman-Zyklus „Die deutsche Chronik“ an vier Abenden auf die Bühne hieven. Die Reihe, zwischen 1971 und 1984 veröffentlicht, umfasst neun Bände. Walter Kempowski (1929–2007) erzählt darin den Niedergang des deutschen Bürgertums während des 20. Jahrhunderts und benutzt dafür in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion seine eigene Familiengeschichte.

Der Rollstuhl ist für eine der Hauptfiguren ein wichtiges Requisit der Aufführung. Bühnenmeister Artur Leischner schiebt aus den Kulissen einen Rollstuhl auf die Bühne, setzt sich hinein und fährt ein wenig hin und her. „Kein Problem“, sagt er. „Und mit den ziemlich platten Reifen sowieso nicht.“ Dennoch kommt zur Sicherheit eine Kante an die Bühnenrampe.

Bisher existierte nur ein Modell

Axel Schneider, Dramaturgin Sonja Valentin, Kostümbildner Volker Deutschmann und Jan Philipp Reemtsma, der sich als Kempowski-Kenner für das spektakuläre Projekt als Berater zur Verfügung gestellt hat, sehen den Entwurf bei dieser Bauprobe zum ersten Mal in realer Größe. Bisher existierte nur ein Modell, das Engelbrecht mit viel Fingerspitzengefühl und mühseliger Detailarbeit gebaut hat und das am Aufgang zur Bühne steht.

Daneben liegt eine Schachtel mit den winzigen Requisiten, die in der Inszenierung zum Einsatz kommen sollen und die innerhalb des Modells verschoben werden können. Die Dramatisierung der sogenannten „Deutschen Chronik“ von Walter Kempowski umfasst zeitlich fast ein ganzes Jahrhundert. Die Aufgabe an die Bühnenbildnerin war, Kulissen zu entwerfen, die hohe Flexibilität bieten und mit denen historische Atmosphären geschaffen werden können.

Schräge mit einer leichten Steigung

Engelbrecht hat eine Schräge mit einer leichten Steigung gebaut. Im Bühnenhintergrund hängen auf ganzer Breite Kostüme auf einer langen Kleiderstange. Kleider, Jacketts, Blusen, Mäntel, Anzüge, teilweise aus Stoff, teilweise aus Papier. Der Unterschied ist vom Zuschauerraum aus nicht zu bemerken. Anhand der Kleidung soll die jeweilige Epoche zu erkennen sein. Requisiten gibt es ansonsten nicht sehr viele. Ein Kronleuchter baumelt an der Decke, ein Bild mit der Darstellung eines Schiffes soll ebenfalls aufgehängt werden. Im Modell ist es gut zu sehen, jetzt hält einer der Bühnenarbeiter zur Simulation ein großes Pappschild über den Kopf, um die richtige Position zu finden.

Später wird noch ein Tisch mit sechs Stühlen aufgestellt. „Ich brauche den Tisch, weil er für die Erzählung wichtig ist“, erklärt Schneider. „Da wird in der Familie gestritten, geneckt, diskutiert.“ Kostümbildner Volker Deutschmann schaltet sich ein, während die Möbel auf die Schräge gestellt werden. „Sollte man nicht niedrige und hohe Stühle hinstellen, um klarzumachen, wer die Kinder und wer die Erwachsenen am Tisch sind? Denn die Kinder sind ja nicht auf Augenhöhe“, sagt er. „Kurze Hosen würden in jedem Fall lächerlich wirken“, kommentiert Reemtsma die Überlegungen.

Wiedererkennungswert ist gewünscht

Ulrike Engelbrecht muss eine Bühne kreieren, die bei allen vier geplanten Kempowski-Inszenierungen benutzt werden kann. Der Zuschauer braucht einen Wiedererkennungswert. „Dieses Bühnenbild leuchtet ein“, bemerkt Reemtsma. „Man kann das nicht naturalistisch bauen.“ Eigentlich sei der Publizist skeptisch, was Romanbearbeitungen für die Bühne angeht, sagt er, doch das Kempowski-Projekt unterstütze er, weil er die autobiografischen Romane des 2007 gestorbenen Schriftstellers für historisch wichtig hält. „Ich werde ab und zu auch zu den Proben gehen und, wenn mir etwas auffällt, mich dazu äußern. Wenn nicht, halte ich meinen Mund“, beschreibt er seine Rolle in dem Projekt, das sich über mehr als ein Jahr erstrecken wird. Ein Kraftakt, vor allem für ein Privattheater.

Schneider und Engelbrecht bewegen sich unterdessen im Zuschauerraum und geben immer neue Anweisungen. Der Tisch muss verrückt werden, ein Gardeobenständer fungiert als Tannenbaum, eine hölzerne Brandmauer macht den Bühnenraum größer. Nach eineinhalb Stunden sind die wesentlichen Fragen geklärt. In den kommenden Wochen wird die Bühne gebaut, die Proben mit den Schauspielern haben begonnen. Geprobt wird in der Stiftstraße in St. Georg, zurück ins Altonaer Theater kommt das Ensemble erst eine Woche vor der Premiere. Die Uraufführung der Saga, Teil 1: „Aus großer Zeit“, ist für den 22. September geplant.