Hamburg. Der Philosoph war der Star am ersten Wochenende des Harbour Front Literaturfestivals. Sicherheitsvorkehrungen bei Can Dündar.

Nicht immer wird das Harbour Front Festival seinem Namen gerecht. Die Laeiszhalle etwa, wer würde ernsthaft behaupten, sie liege am Wasser? Andererseits ist die Frage nach der Distanz ohnehin immer relativ. Für manch einen liegt Hamburg ja auch am Meer. Und so oder so war dieses erste Wochenende des bis zum 15. Oktober laufenden Lesefests eine wahre Leistungsschau.

Richard David Precht dachte in bereits erwähnter Laeiszhalle über das Ende der Leistungsgesellschaft nach. Erdogan-Flüchtling Can Dündar sprach in den Kammerspielen über die Heimatlosigkeit des Aufbegehrenden. Gretchen Dutschke erinnerte sich in der HafenCity an den gesellschaftlichen Aufbruch der 68er. Und US-Starautorin Jennifer Egan? Hatte vor ihrem Auftritt auf der „Cap San Diego“ noch nie an einem so passenden Ort gelesen.

Pulitzerpreisträgerin im Bauch der Cap San Diego

„Manhattan Beach“, der neue Roman von Egan, handelt zwar von New York, von einer Gangsterexistenz in den 1930er- und 1940er-Jahren, vom Zweiten Weltkrieg und von einer außergewöhnlichen Frau, die es so heute nicht mehr geben könnte. Aber: Hafen ist Hafen, ob in Brooklyn oder an den Landungsbrücken. Und als die 56 Jahre alte Pulitzerpreisträgerin den Ort ihrer vierten von fünf Europa-Lesungen ausdrücklich lobte, brandete bei den 200 Besuchern im Bauch der „Cap San Diego“ Applaus auf.

Ist doch schön, wenn sich eine weit gereiste Schriftstellerin wohlfühlt. Und wenn auch ein Festival, das die Wasserkante im Namen trägt, ganz bei sich ankommt. Jennifer Egan ist sowieso die ideale Schriftstellerin; ein Ausbund an Freundlichkeit und Mitteilsamkeit, also das, was sich jeder Verleger, jeder Festivalmacher und jeder Leser wünscht.

Und so war der Freitagabend eine prächtige Werbung für die Literatur allgemein: Egan erklärte, wie sie zu ihrem Stoff kam, zu ihrer Heldin Anna Kerrigan, jener faszinierenden Hafentaucherin, die dort arbeitet, wo sonst nur Männer arbeiten. Egan las einen Teil von „Manhattan Beach“ auf Englisch – womit sie nun auch leibhaftig die Stimme der Erzählerin im Kopf all derer unter den Besuchern sein wird, die den Roman noch nicht gelesen haben – und lauschte der Schauspielerin Laura de Weck beim Vortragen der deutschen Passagen. War dann auch das, wonach in diesen Zeiten das europäische Publikum lechzt wie nach wenig sonst: eine Botschafterin aus den moralisch angeschlagenen, Unvereinigten Staaten von Amerika.

Jennifer Egan (l.) und Laura de Weck auf der MS „Cap San Diego“
Jennifer Egan (l.) und Laura de Weck auf der MS „Cap San Diego“ © Andreas Laible | Andreas Laible

Man spürte doch, dass nicht alles verloren ist, wenn Frauen wie Jennifer Egan, Präsidentin der amerikanischen Sektion der Schriftstellervereinigung PEN, in Romanen wie „Manhattan Beach“ über Zeiten schreiben, in denen auch gesellschaftlich nicht alles zum Besten steht, das Gute am Ende aber dennoch siegt.

Tragische Liebesgeschichte der Revolte

Dass am Sonnabendabend in der Kühne Logistics University nur Gewinner in den Reihen des großen Lehrsaals saßen – davon durfte man ausgehen. Denn wer hätte nicht von manchem profitiert, was die 68er erkämpft haben? Eine Kulturrevolution, die neben manchem Unsinn viel notwendige Veränderung bewerkstelligte: 1968 habe „einiges an Standards hervorgebracht, die ein liberales Land braucht, es hat Deutschland zu einem weltoffenen Land gemacht“, sagte Gretchen Dutschke, die Witwe von Rudi Dutschke, der 1968 ein Attentat gerade noch so überlebte, aber elf Jahre später dessen Spätfolgen erlag. Wie diese Gretchen Dutschke mit amerikanischem Akzent im Gespräch mit Moderator Stephan Lohr von der tragischsten Liebesgeschichte der Revolte erzählte, vom Beitrag der 68er zur Vergangenheitsbewältigung und der Rolle der Frau („Wir hatten es nicht leicht mit den kampfbereiten Genossen, aber wir waren nicht nur Begleitpersonal, wie später manchmal behauptet wurde“), das war natürlich beeindruckend.

Zum 50-Jährigen der Revolte, hinsichtlich derer unverdrossen Errungenschaften und Verluste gegeneinander aufgerechnet werden, hat Gretchen Dutschke dem Land eine literarische Bilanz geschenkt: „1968: Worauf wir stolz sein dürfen“. Wer eine direkte Linie von 68 zur Gewalt der RAF ziehe, der spiele „in die Hände von AfD und CSU und solchen Typen“, behauptete Dutschke. Was in seiner argumentativen Schlichtheit gut ankam, aber immerhin einen Zuhörer nicht entwaffnete. Er rief Dutschke ein „Macht es euch mit der Unterscheidung von Gut und Böse bitte nicht zu einfach“ entgegen.

Stolz auf Deutschland

Ein vielleicht notwendiger Bitterstoff in der sonst allzu lieblich schmeckenden 68er-Harmoniesuppe. Es rief den in diesen Tagen nicht unwichtigen Reflex hervor, so manches an rechtsgewirkter Tagespolitik unter berechtigten Generalverdacht zu stellen. Gretchen Dutschke hat ihr persönliches Narrativ auch als Sachwalterin ihres Mannes jedenfalls gefunden. Gerade nach 68 könne man stolz auf dieses Land sein, wobei sie das „massive Tabu“ der Linken, überhaupt auf Deutschland stolz zu sein, immer noch irritierend finde. Den Kapitalismus müsse man weiter kritisieren. Und wer da einen Veranstaltungsort wie den bei Kühne + Nagel ironisch findet, dem würde sie wohl sagen: Der Marsch durch die Institutionen endet nie.

Nicht weniger brisant und hochaktuell war es am Sonntagmorgen in den Kammerspielen: Ungewöhnlich aufwendige Sicherheitsmaßnahmen, Security, Leibesvisitationen, Bodyguards vor der Bühne. Can Dündar las im Rahmen des Festivals aus seinem Buch „Tut was!“, und der ehemalige Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“ wird als wortgewaltiger Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdoğan auch im deutschen Exil durch türkische Nationalisten bedroht.

Bedrohliche Stimmung

Die bedrohliche Stimmung blieb in den nicht ganz ausverkauften Kammerspielen allerdings nicht bestehen. Dündar mag ein kluger politischer Analytiker sein, der geschickt inhaltliche Verbindungslinien von Donald Trump über Wladimir Putin und Erdoğan zu europäischen Rechtspopulisten aufzeigen kann, vor allem aber ist er ein menschenfreundlicher, origineller Erzähler.

Der politische Gehalt von „Tut was!“ wurde zwar vom Moderator Axel Rühle („Süddeutsche“) ernst genommen, und auch Schauspieler Sebastian Dunkelberg, der den deutschen Text las, blieb im leidenschaftlich-aktivistischen Ton. Dündar aber würzte seine Passagen immer wieder mit Anekdoten, Geschichten, manchmal auch Witzen, die das Beschriebene nicht verharmlosten, aber auflockerten. „Ein Gefangener kommt in die Gefängnisbibliothek und verlangt ein bestimmtes Buch. Der Mitarbeiter entschuldigt sich, der entsprechende Band sei nicht vorrätig … Aber immerhin der Autor sei da.“ Die beeindruckend genaue Simultanübersetzung Recai Hallacs behielt die Schärfe dieses Satzes: Man lachte, aber man lachte mit Schmerzen.

Der Star des Festivals

Wenn das Harbour Front Literaturfestival jedoch einen Star hatte, dann war das Richard David Precht. Vor der ausverkauften Laeiszhalle versuchten Fans des Philosophen noch verzweifelt an Karten zu kommen, aber niemand verkaufte sein Ticket. Zwei Drittel seiner Zuhörer waren weiblich, Precht begrüßte auch die „mitgeschleppten Ehemänner“ herzlich und setzte dann zum 100-minütigen Vortrag über seine aktuellen Themen Digitalisierung, bedingungsloses Grundeinkommen, Finanztransaktionssteuer und Umbau des Bildungssystems an.

Die Gedanken hat der Philosoph in seinem Buch „Jäger, Hirten, Kritiker“ aufgeschrieben, bei dieser Matinee trug er in freier Rede vor. Wer Precht noch nie auf einer Bühne erlebt hatte, begriff seine Popularität spätestens jetzt. Er versteht es, kluge Gedanken anschaulich zu demonstrieren und mit pointierten Bemerkungen zu unterhalten. Am Ende des Vortrags: Jubel. Und 2000 Zuhörer, die ein ganzes Stück klüger und nachdenklicher gingen.