Hamburg . Johannes Oerding und Band spielten, als ginge es um alles. Und plötzlich stand die Zeit im ausverkauften Stadtpark still.

„Die nachfolgenden Konzerte verschieben sich um zwei Stunden“, sagt Johannes Oerding zu Beginn seines Konzerts am Sonnabend im ausverkauften Stadtpark. Spielen, so lange es geht, das will er, und falls die 22-Uhr-Lärmschutzgrenze überschritten wird, zahlt die Plattenfirma, verspricht er.

Wahrscheinlich weiß nicht nur Oerding nicht mehr, wie oft er in seiner Hamburger Wahlheimat gespielt hat. Angefangen in kleinen Bars, wo er als „Johannes Oerdinger“ oder „Jochen Oerding“ angekündigt wurde, bis zur Barclaycard Arena im November 2017. Egal wo, egal wann, er und seine vierköpfige Band spielen im Stadtpark am ersten von zwei Abenden unter dem Himmel von Winterhude wieder, als ginge es um alles.

Auch Männer kaufen T-Shirts am Fanartikelstand

Alles, das kann schon eine kleine, nette Geste sein. „Jeder darf jetzt mal die Leute rechts, links, vor sich und hinter sich begrüßen. Knistert ein bisschen, oder?“ Nun, es knistern die Windjacken und rascheln die Regencapes bei muckeligen 14 Grad, aber der Himmel ist blau und die 4000 finden es „So schön“, wenn sie zum gleichnamigen Song einen großen gemischten Chor bilden, dirigiert von Jochen... nein: Johannes Oerding auf der Rampe.

Nicht nur Oerdinger... nein: Oerding ist übrigens erstaunt, dass immer mehr Männer zu seinen Konzerten kommen, ja sogar T-Shirts am Fanartikelstand kaufen. Schließlich ist der Sänger und Songschreiber auf Gefühle gebucht, auf „Hundert Leben“ oder „Kreise“, auf Lieder zum Entzünden von Wunderkerzen in der ersten Reihe. Aber seit seinem ersten Album „Erste Wahl“ (2009) hat er sich nicht nur als sehr guter Sänger, sondern auch als unterhaltsamer Entertainer in den Charts und Konzerthallen etabliert.

Ein Nostalgie-Medley ist hier ein Produkthinweis: „Ich darf erst eine neue Platte machen, wenn alle alten verkauft sind.“ Er beherrscht den Michael-Jackson-Moonwalk ebenso wie den Gang durch das Publikum zum Bierstand und zurück, elektrische und akustische Gitarre, Ballade und Dynamik.

Einige populäre Songs flogen aus dem Programm

Auch das Songprogramm wurde im Vergleich zum Konzert in der Barclaycard Arena neu zusammengestellt. Dabei fällt auf, dass bis auf „Nie wieder Alkohol“ die lustigen bis zotigen Pop- und Funknummern Marke „Traurig aber wahr“ und „Zieh Dich aus“ von der Setlist geflogen sind. Stattdessen ist im Stadtpark mehr Ernsthaftigkeit und Gefühl gefragt, Liebe, Liebesleid, Freudschaft, „Turbulenzen“, „Wo wir sind, ist oben“, „Could You Be Loved“.

„Reggae wurde in Barmbek-Süd erfunden“, sagt Oerding mit Blick auf seinen Barmbeker Bassisten Robin Engelhardt. Ein Rest Sommer in Winterhude landet als gefilmte und fotografierte Erinnerung für später auf unzähligen Handys: „Zwischen schwarzen Wolken seh’ ich ein kleines bisschen grau“, singt Johannes Oerding in „Alles brennt“ über den Hamburger Weg beim Thema Optimismus.

Der Stadtpark ist für Oerding die ideale Größe

„Auf die großen Bühnen wollte ich schon immer, da wird man ja schon bei Festivals angefixt. Die Dimensionen, die Energie. Das macht schon mehr Spaß, als in einem Café zu spielen“, erzählte Oerding dem Abendblatt vor drei Jahren, als das Album „Alles brennt“ erschien.

Seitdem trat er in der Sporthalle und in der Barclaycard Arena auf, aber man spürt, dass der Stadtpark für ihn die ideale Größe ist. Flache Bühne, direkte Nähe zum Publikum an der Grasnarbe und auf der Rampe, Blickkontakt bis in die letzte Reihe. Er schüttelt Hände, liest Plakate und warnt Kinder: „Wie alt bist du? Elf? Du hast noch drei gute Jahre – dann gründest du deine erste Band.“ Nach Konzertende wird er sich bei seiner Crew und seiner Familie bedanken und sagen, dass dies sein bisher emotionalstes Konzert war. Das vieles spontan entstand, Ansagen vergessen wurden. „So schön“.

Und plötzlich stand die Zeit im Stadtpark still

Aber noch ist ein wenig Zeit für die letzten Songs. „Wenn du lebst“ und „Heimat“ gehen den 4000 Besuchern ans Herz, und nach „Hundert Leben“ schaut Oerding besorgt auf die Zeit. Zwei Stunden und 15 Minuten stehen er und seine Jungs auf der Bühne. Es ist 22 Uhr. Alles, was er jetzt noch spielt, könnte teuer werden.

Egal. Er greift zur Gitarre und steht alleine auf der Bühne: „Bewegungslos, blind, taub und stumm./Und nichts geschieht um dich herum./Eine unendliche Suche./Nach dem einen, diesen einen Moment.“ Die Fans haben diesen Moment gesucht und bekommen ihn. „Die Zeit steht still./Weil ich diesen Moment für immer behalten will./Ich halt ihn fest./Für immer ab jetzt,“ singen Oerding und das Publikum, immer leiser werdend. Dann ist absolute Stille. Sekundenlang. Ein Auto hupt auf der Saarlandstraße. Gelächter. Applaus. So schön.