Hamburg . Der Generalmusikdirektor gab am Sonnabend ein Gratis-Konzert: „Wir haben keine Grenze zwischen uns und dem Publikum gefühlt.“

Am Vortag hatte der Wind noch die Holzpulte umgeweht, so dass die Probe abgebrochen werden musste. An diesem Spätsommerabend aber ist es beinahe lau. Keine Wolke am Himmel. Die Leute picknicken, eine Frau zwängt sich mit einer Traube von Weingläsern in der Hand durch die voll besetzten Stuhlreihen, und auf den Treppenstufen vor dem Rathaus baut ein kleiner Junge an einem Lego-Auto. Der ist also beschäftigt. Es dauert ja noch eine Weile, bis es losgeht.

Auf dem Rathausmarkt herrscht am Sonnabend Ausnahmezustand. Gastronomoniestände verbreiten Weihnachtsmarktflair. Okay, Weindorf und Beach-Volleyball, das kennt man von Hamburgs zentralem Platz. Aber Klassik-Open-Air gehört nicht zum regelmäßigen Eventprogramm. An diesem Abend geben das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und sein Chefdirigent Kent Nagano ein Konzert für jeden, der mag. Eintritt frei. Ein Geschenk an die Hamburger, wie Nagano im Vorfeld sagte.

„Einen wunderbaren Konzertabend im größten Konzertsaal Hamburgs“

Kent Nagano betrat die Bühne auf dem Hamburger Rathausmarkt sichtlich gut gelaunt
Kent Nagano betrat die Bühne auf dem Hamburger Rathausmarkt sichtlich gut gelaunt © dpa | Axel Heimken

Die 2500 Stühle sind längst besetzt. Die Veranstalter rechnen mit 5000 Besuchern, das könnte schon eine Stunde vor Beginn locker hinkommen. Noch ist das Orchester auf der überdachten Bühne beim Soundcheck. Am Pult: Nicolas André, Naganos Assistent, über Kopfhörer mit dem Chef verbunden. Dann huscht ein schmaler Mann unauffällig durch die Menge Richtung Bühne. „Das isser“, sagt eine Dame und blickt Nagano ehrfürchtig nach.

Durch den Abend führt der stellvertretende Opernintendant Tillmann Wiegand, Intendant Georges Delnon weilt zurzeit auf Gastspielreise in Shanghai. Delnon wünscht dem Publikum per Video „einen wunderbaren Konzertabend im größten Konzertsaal Hamburgs“. Er ist schwer zu verstehen, weil der chinesische Wind ins Mikro weht.

Süffige Melodien und schneidige Rhythmen, die gute Laune machen

Aber als dann das Orchester die Ouvertüre von Rossinis „Guillaume Tell“ anstimmt, da ist die Akustik so klar und deutlich, wie man es sich bei Klassik Open Air nur wünschen kann. Es helfen ja keine Wände und kein Saalboden bei der Klangentstehung, die Musiker hören sich und einander schwerer als im Saal, und der Eindruck eines Gesamtklangs entsteht erst durch die Verstärkung. Im Regieturm schiebt ein Tonmeister auf Anweisung von Nicolas André an unzähligen Reglern. Und dank der Videobilder kommt man den Musikern so nah wie im Saal nie.

Rossini endet rasant und wird entsprechend bejubelt. Das Programm ist natürlich auf die Bedingungen des Anlasses zugeschnitten: süffige Melodien und schneidige Rhythmen, die gute Laune machen und für die kein Hörer einen musikwissenschaftliches Proseminar vorweisen muss. Rachmaninows „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ mit ihrer abwechslungsreichen Zwiesprache zwischen dem Pianisten Nicolai Luganski und dem Orchester zieht die Leute hörbar in ihren Bann.

Besucherin über Nagano: „Es ergreift mich, wie er dirigiert“

Zur Pause ist es schon merklich kühler geworden. Die Musiker haben ein paar Heizpilze auf der Bühne. „Je nachdem, wie der Wind weht, bekomme ich auch mal einen Hauch Wärme ab“, sagt die Geigerin Solveigh Rose, lacht und zieht ihre Jacke fester zu. Der Stimmung tun die Temperaturen keinen Abbruch. „Ich muss halt gucken, dass kein Wasser in die Klappen kommt“, sagt der Es-Klarinettist Christian Seibold. „Das Spielen macht unglaublich Spaß. Toll, dass so viele Leute gekommen sind!“

Die kommen womöglich hauptsächlich wegen Nagano. „Es ergreift mich, wie er dirigiert“, sagt eine ältere Dame, und ein junges Pärchen ergänzt: „Und dann ist es noch umsonst. Wenn Konzerte nicht so teuer sind, gehen wir gerne hin.“

Mann hinterm Bierstand outet sich als Fan der „West Side Story“

Die zweite Hälfte beginnt mit einer Hommage an das Geburtstagskind Leonard Bernstein, der am 25. August 1918 geboren wurde. Die Musik ist mal witzig, mal schmissig und mal hochromantisch wie in der berühmten Balkonszene aus der „West Side Story“, in der die Sopranistin Elbenita Kajtazi und der Tenor Oleksiy Palchykov bella figura machen. Was fürs Herz muss schon auch dabei sein. Mitten in das Schmachten der beiden läutet St. Petri. Es ist halb zehn.

Ach. Jetzt ein Glühwein. Aber den gibt’s leider nicht. Der Flammkuchenmann schiebt stoisch ein Blech nach dem anderen in den Ofen, auch der Softeisverkäufer hat Zulauf. „Die Musik gefällt mir sehr gut“, sagt er, „sie ist so angenehm beruhigend.“ Und sein Kollege vom Bierstand outet sich als Fan der „West Side Story“. Dass so viele Leute da sind, freut beide, und es ist zu spüren, dass sie dabei nicht (nur) an den Umsatz denken.

In die Schlusskurve geht der Abend mit Ravels „Boléro“

Natürlich darf auch der Hamburger Hausheilige Brahms nicht fehlen. Zwei Ungarische Tänze fegen über den Platz. Wenn die Kamera Nagano zeigt, dann sieht man im Hintergrund die grünen Arkaden, die den Rathausmarkt auf der dem Rathaus gegenüberliegenden Seite säumen. Sie beherbergen Wurststände und sind überhaupt der Inbegriff einer schnöden Touristen-Anlaufstelle. Sonderbar, dass sie an diese Abend so etwas wie Romantik ins Bild bringen.

In die Schlusskurve geht der Abend, wie könnte es anders sein, mit Ravels unverwüstlichem „Boléro“. Wobei, so unverwüstlich vielleicht doch nicht. Zunächst hört man nämlich – nichts. Und damit hat es auch seine Ordnung. Der Schlagzeuger, das Uhrwerk des Stücks, setzt pianissimo ein, die Schlegel berühren das Trommelfell nur ganz leicht am Rand. Über Minuten schwillt der Klangstrom allmählich an. Bei den Holzbläsern ist die Intonation eingetrübt, es ist einfach zu kalt inzwischen. Aber die Leute summen mit, und hin und wieder zieht ein Bus vorbei, wie ein Gruß aus einer profaneren Welt. St. Petri liegt im Dunkeln da, aber die Bühne leuchtet.

Nagano: „Wie schön, dass wir so etwas Verrücktes gemacht haben"

Großer Jubel, na klar. Als Zugabe fetzt das Orchester noch den 5. Ungarischen Tanz von Brahms, und das Publikum klatscht begeistert mit. Für die Hörer könnte es noch weitergehen, aber die Musiker verabschieden sich, sie müssen vollkommen durchgefroren sein. Als Nagano auf der Bühne ein kleines Resümee zieht, taufrisch, als wäre nichts gewesen, da sind sie schon alle verschwunden. „Wir haben keine Grenze zwischen uns und dem Publikum gefühlt“, sagt der Chef. „Wie schön, dass wir so etwas Verrücktes gemacht haben. Es gibt so einen Gemeinschaftssinn beim Hamburger Publikum, den müssen wir feiern.“

7000 Leute sind gekommen, haben die Veranstalter hochgerechnet. Kommt schon hin, so voll, wie der gesamte Platz ist. Nach der Zugabe leert es sich dann doch schnell. Nur auf den Stufen vor dem Rathaus hocken noch drei Frauen, in Wolldecken gehüllt, trinken ihren Sekt und strahlen. „So etwas müsste viel häufiger passieren!“, sagt die eine – und die anderen nicken heftig.