Hamburg. Der Pianist James Rhodes wurde als Kind missbraucht, Rettung findet er bis heute in der Musik. Konzert in der Elbphilharmonie.

Sagen wir es mal so: James Rhodes ist nicht der beste Pianist, aber überhaupt: Was heißt schon „bester“, „schnellster“, „wichtigster“, wenn es um Musik geht? Ihm fucking egal. Herzblut macht nun mal Flecken. „Ich könnte niemals der Beste sein ... Wie könnte ich der Beste sein?“ Doch er ist, auf seine sehr eigene Weise, der Aufrichtigste – weil er sich trotzdem raustraut, so gut er kann; weil er spielen muss, vielleicht sogar, um nicht wieder fast verrückt zu werden. Denn genau das ist er fast geworden, weil er als Kind jahrelang von einem Lehrer missbraucht wurde. Deswegen bekam seine Autobiografie im Original den Titel „Instrumental“, dessen Doppeldeutigkeit auf psychische Probleme anspielt.

Mit 14 hat er begonnen, Klavier zu spielen, mit 18 für zehn Jahre aufgehört. Klassische Virtuosen-Lebensläufe klingen anders. „Ich habe noch nie ein Wunderkind getroffen, das froh war“, sagt er dazu. Jetzt ist Rhodes 42 und Musiker, spielt in Opernhäusern und auf Pop-Festivals. Auf den rechten Unterarm hat er sich den Namen des von ihm vergötterten Komponisten Rachmaninow tätowieren lassen, in Kiryllisch. Für den linken schwankt er noch zwischen den ersten Takten von Bachs Goldberg-
Variationen und denen von Beethovens Opus 111. „Oh mein Gott, was für Musik ...“

Tonnenschwerer Rettungsanker

Rhodes’ Leben raste durch etliche Haarnadelkurven darauf zu, in Jeans und College-Sweatshirt, auf dem „BACH“ steht, nervös ins Rampenlicht zu flanieren und dort anders zu sein als die meisten anderen. Sein Rettungsanker ist immer in Griffweite – tonnenschwer, nobel glänzend. Die Bezeichnung „Flügel“ für dieses Instrument kann kein Zufall sein, da hat die deutsche Sprache ganze Arbeit geleistet. Am Mittwoch war Rhodes im Großen Saal der Elbphilharmonie. Allzu viel gespielt hat er dort nicht, das macht er aber nie, Kürze und Würze und so. Reden tut er zwischendurch auch, und wäre das ein Eiskunstlaufwettbewerb gewesen, hätten ihn die russischen Punkrichterinnen für die Unperfektheit eiskalt in den Boden gerammt.

Das eigentliche Repertoire ist schnell aufgezählt: Etwas Gluck, aus „Orfeo et Euridice“, die 1. Partita von Bach, die 4. Ballade von Chopin, Busonis Bearbeitung von Bachs Chaconne. Danach einige Zugaben, der Kreis des Abends schließt sich mit Bach. Alles keine Leichtgewichte, und in jedem Stück ließen sich Passagen ausmachen, in denen Rhodes’ pianistisches Können an seine Grenzen kam, mal zu viel Pedal, mal ein zu krasses, zu wenig kontrolliertes Forte.

„Beethoven würde tot umfallen"

Doch immer wieder auch Passagen, in denen die ehrliche Haut durchkam, die Sehnsucht danach, dass so viele Menschen wie möglich angefixt werden, wie er es wurde. Trotz der Blase aus Konventionen, in der sich nach wie vor zu viele Virtuosen eingekapselt haben. „Wenn Beethoven heutzutage in ein Konzert ginge, es wäre ihm so peinlich!“ regt sich Rhodes auf. „Er würde tot umfallen! So sollt ihr meine Musik nicht präsentieren! Es sollte intim sein, wunderbar, einladend für alle. So müsste das sein! Nur meine Meinung ...“

Und damit das so und eben anders ist als bei jenen stummen Kollegen, die sich verbeugen und verschwinden, erklärt Rhodes lieber und berichtet, nahbar und plastisch. Von Bach, der früh zur Waise wurde, der 20 Kinder hatte, „wie fucking Mick Jagger“, und elf von ihnen starben. Der nicht da war, als seine Frau starb.

Für zwei Stunden entkommen

„Und dann hören 2000 Menschen diese Musik“, holt er bei unserem Treffen einige Stunden vor dem Konzert weit aus, „und jeder einzelne im Saal hat seine Vorstellungen im Kopf, über Liebe und Verlust, Tod, Heldentum und Überleben. Für mich ist das so viel interessanter als „und hier ist ein Choral in D“... wen interessiert dieser Kram? Es sei denn, man studiert Musik, und dann weiß man das sowieso. Über die Komposition etwas im Programmheft lesen, während es gespielt wird?! Das macht so gar keinen Sinn! Ein Konzertsaal ist heutzutage der letzte Ort, an dem wir nicht von unseren fucking Smartphones überfallen werden, von Twitter und von Facebook-Likes. Wir können die Augen schließen. Das Licht geht aus und wir entkommen. Nur für ein, zwei Stunden.“

Rhodes ist Fan von Teodor Currentzis

Kaum überraschend, dass Rhodes glühender Fan des Rebellen Teodor Currentzis ist: „Der größte lebende Dirigent, Punkt! Seine Mozart-Opern? Die besten Aufnahmen, die ich in meinem Leben gehört habe. Leute wie ihn braucht die klassische Musik – die keine Angst davor haben, Kritiker in Rage zu bringen. Die einfach machen, was sie wollen.“ Nächste Runde: „Die Klassik ist voller Arschlöcher, voller Leute, die alles nur für sich haben wollen – Kritiker, Agenten, Intendanten … Es soll doch unbedingt eine erhabene Kunstform sein. High art. Ist sie nicht, und wir beide wissen das. Aber dennoch gibt es genügend, die sich so anstellen, als wäre das der Champagner der Musik. Und das macht mich wütend. Bullshit!“

Nach seiner Biografie hat Rhodes eine kleine Klavierschule geschrieben; wer noch nie vorher eine Klaviatur berührt hat, soll damit und nach regelmäßigem Üben in sechs Wochen ein Bach-Präludium spielen können. Hauptsache anfangen, Hauptsache dranbleiben, Hauptsache nicht abschrecken lassen. Wegen dieser missionarischen Leidenschaft kann man kaum anders, als ihn toll zu finden. Toll spielen können genügend andere. Rhodes ist lieber Einstiegsdroge.