Hamburg. Haltung, Werte und der Traum von Europa: Thalia-Intendant Joachim Lux will sein Haus internationalisieren. Warum eigentlich?

Joachim Lux, Intendant des Thalia Theaters, hat erst kürzlich seine Hamburger Intendanz bis ins Jahr 2024 verlängert. Warum er die Bühne noch eine so lange Zeit weiterführen möchte, was das mit Europa und Politik zu tun hat und welchen Unterschied er zwischen Mission und Missionierung macht, erzählt er im Gespräch.

Der frühere Schauspielhaus-Intendant Frank Baumbauer hat einst gesagt, ein Intendant hat nach sieben oder acht Jahren eigentlich ­alles erzählt, was er zu erzählen hat. Acht Jahre sind Sie schon am Thalia, sieben ­weitere sollen nun folgen. Was fehlt also in Ihrer Erzählung?

Joachim Lux: Bei allem Respekt vor Frank Baumbauer: Es geht nicht um die Zahl der Jahre, sondern um die sehr wichtige Frage, ob es noch eine dynamische Erzählenergie gibt oder ob sie sich erschöpft hat.

Und?

Lux: Man muss erst mal Bilanz ziehen. Nehmen Sie das Ensemble: Ich habe in über 30 Jahren Theaterarbeit noch nie einen solchen Ensemblegeist erlebt, und das heißt vor allem Konfliktfähigkeit und nicht romantisches Kuscheln. Es wäre fahrlässig, das auseinanderzureißen. Dann die Regisseure. Auch hier gab es viel Entwicklung: Erfahrene europäische Großregisseure wie Luk Perceval, Dimiter Gotscheff oder Johan Simons, später kam Leander Haußmann, eine mittlere Generation mit Nicolas Stemann in den ersten Jahren, Jan Bosse oder jetzt Sebastian Nübling. Vor allem aber sind außergewöhnlich viele junge Regisseure, die sich am Thalia entwickelt haben, ein großes Kraftzentrum: Jette Steckel, Antú Romero Nunes, Bastian Kraft, Ersan Mondtag. Wir sind da ziemlich risikofreudig und engagieren nicht nur bereits durchgesetzte „Marken“. Ich vertraue hier auf weitere Dynamik. Und schließlich war mir von Anfang an ein interkultureller und internationaler Ansatz wichtig. Mit dem Halbhamburger Kosmopoliten Lessing als Galionsfigur. Wir laden europäische Regisseure nach Hamburg ein, haben Theater der Welt nach Hamburg geholt, sind mit unseren Aufführungen auf der ganzen Welt zu sehen. Wir haben also einen starken internationalen Focus, verdienstvoll und ehrenwert, aber reicht das? Wir müssen da weitergehen, wir brauchen einen Qualitätssprung.

Lessingtage – Demokratie in Gefahr?

Um was zu tun?

Lux: Mich interessiert die politische Funktion von Theater und Kultur in unseren Städten. Wie verhalten wir Kulturinstitutionen uns angesichts der sich internationalisierenden Bevölkerung? Ich finde uns da, ehrlich gesagt, ziemlich schlecht. Das Thalia Theater finde ich da schlecht, alle anderen Theater auch, die Museen auch.

Wie meinen Sie das?

Lux: Wir alle genügen der Situation überhaupt nicht. Die Internationalisierung unserer Gesellschaft muss sich in den Kulturinstitutionen viel klarer abbilden. Sehr wichtig ist mir außerdem, den Traum von Europa zu verteidigen. Europa ist nicht nur ein globaler ­Wirtschaftskonzern, sondern eine ­großartige kulturelle und politische Idee. Darüber habe ich in den letzten zwei Jahren viel nachgedacht – sicher auch, weil ich am Tag der Trump-Wahl in New York war, am Tag des Brexits in London oder weil ich in Paris erlebt ­habe, wie Theater von schwer bewaffneten Militärs geschützt werden mussten. All das hat mich tief bewegt, da kann man doch nicht einfach nur so weitermachen …

Wie wollen Sie das also im Theater ­abbilden?

Lux: Die Lessingtage sind da ein begrenztes Instrumentarium. Dafür gibt es weder genug Geld noch die Manpower, um das zu intensivieren. Und ich hatte auch Angebote aus anderen Städten und habe mich gefragt: Was hättest du in der betreffenden Stadt für eine Mission und welche hast du hier in Hamburg noch? Am Ende hatte ich das Gefühl, dass Hamburg als Ort mit Sinn für Internationalität ein idealer Resonanzkörper sein könnte. Und vielleicht ist es auch leichter, in einer Stadt, die ich kenne, an einem Theater, das ich kenne, solch einen Prozess anzustoßen als an einem neuen Ort, dessen Strukturen man ja erst einmal begreifen muss. Zusätzlich stand für mich persönlich natürlich auch die Frage im Raum, ob ich das überhaupt will. Ich bin im Kern ein anspruchsloser Mensch. Ich kann auch in der Lüneburger Heide sitzen oder etwas ganz anderes machen.

Sie haben stattdessen angekündigt, das ­Modell Stadttheater für die Zukunft weiterentwickeln zu wollen. Aber was genau ­bedeutet das?

Lux: Ensembletheater war, als ich hier begonnen habe, vergleichsweise normal. Die Idee, dass ein sozialer und künstlerischer Corpus, nämlich das Ensemble, zusammen eine Strecke geht, ist aber nicht mehr selbstverständlich. Die Berliner Volksbühne und die Münchner Kammerspiele zum Beispiel positionieren sich inzwischen deutlich anders. Das klassische Theaterensemble gehört gewissermaßen zur Gattung der bedrohten Tierarten. Es ist aber total verteidigenswert.

Sie sprachen eben von Ihrer „Mission“. Verstehen Sie Ihre Intendanz also auch politisch als eine Art missionarischer ­Auftrag?

Lux: Sagen wir mal so: Mit dem Wort „Mission“ bin ich einverstanden. Wir wollen eine Botschaft senden, künstlerische und politische Zeichen setzen. Ich finde es tatsächlich nicht befriedigend, als produzierende „Firma Thalia“ nur einzelne Aufführungen herzustellen. Das ist sicher auch verdienstvoll, aber ich träume von ein bisschen mehr. Die für mich besten Theater haben jenseits der gelungenen oder nicht so gelungenen Aufführungen jeweils einen ganz bestimmten Geist ausgestrahlt. In meiner persönlichen Biografie waren das zum Beispiel Castorfs Volksbühne, das Hamburger Schauspielhaus unter Frank Baumbauer, Bochum und Stuttgart zu Peymanns Zeiten.

Das Wort „missionarisch“ gefällt Ihnen nicht so? Sie wollen niemanden bekehren, auch nicht zum Guten?

Lux: „Missionarisch“ ist schrecklich. Wir ­machen im Kern künstlerische Arbeit und nicht Kulturpolitik oder Kirche. Aber die Arbeit steht dafür, eine Utopie zu leben und sie sichtbar zu machen. Wenn Kulturinstitutionen beispielhaft sein könnten für die Offenheit unserer Gesellschaften, das wäre doch schön. Eine Botschaft, die nicht ideologisch ist. Das kann man gern Mission, Ziel­setzung, inneren Auftrag nennen.

Wenn die Gesellschaft insgesamt nach rechts rückt, ist das Theater dann ein Ort, an dem so etwas wie eine linke Utopie einen größeren Raum einnimmt?

Lux: Die Wohlfühlutopie der „happy few“, die sowieso überzeugt sind, finde ich problematisch. Theater sind Orte, an denen gesellschaftspolitische Konflikte verhandelt werden, das ist der Kern von Drama. Das ist auch ein Grund, warum wir in dieser Spielzeit zum Beispiel Ayn Rands „Fountain­head“ machen, das ist nun wirklich keine linksliberale Utopie. In diesem Roman, in den USA das meistverkaufte Buch nach der Bibel, geht es um Ego-Strukturen versus das Soziale. Und der Text, angeblich das Lieblingsbuch der Trump-Clique, feiert das Ego! Wir schließen uns also nicht gegen die „böse Welt“ draußen ab, sondern holen sie rein.

Ihre Kollegin am Schauspielhaus, die ­Intendantin Karin Beier, hat mal gesagt, das Theater solle nicht die Verlängerung einer moralischen Haltung sein. Mein ­Eindruck war, dass Sie das anders sehen.

Lux: Es ist kompliziert. Ich habe mich sehr für Flüchtlinge engagiert, das entspricht meiner Überzeugung auch als Privatperson, ich bin väterlicherseits selbst ein halbes Flüchtlingskind. Aber Theater ist ein Ort der Auseinandersetzung. Es lebt von der Darstellung von Konflikten und der Verarbeitung dieser Konflikte im Zuschauer. Das schließt nicht aus, dass man auch immer wieder Haltung bezieht. Aber zu viel Harmoniesucht ist so, als würde man die Heizung zu Hause immer auf 24 Grad drehen. Das ist nicht ­gesund.

Aber taugt „Fountainhead“ im Spielplan als Gegenbeispiel? Das Publikum wird ja kaum mit dem Gedanken entlassen werden, dass Egoismus eigentlich eine prima ­Lebensform ist.

Lux: Ich hoffe nicht! (lacht)

Auch diese Inszenierung passt am Ende ­also in einen homogenen Wertekanon …

Lux: Aber man muss die Auseinandersetzungen führen. Es ist durchaus möglich, dass die „Schurken“ weitaus mehr Faszination auslösen, als uns vielleicht lieb ist. Nehmen wir ein anderes Beispiel für die Frage nach unserem inneren Auftrag: Die Thalia-Produktion „Front“, eine internationale Co-Produktion von Deutschen und Belgiern, wurde in ganz Europa gezeigt. „Front“ hat ohne Moralapostelei von den blutigen Auseinandersetzungen der Europäer erzählt. Das ist im Kern nicht anders als bei Ai­schylos und den „Persern“. Das Theater erinnert mit künstlerischen Mitteln an einen gemeinsamen Wertekanon: „Nie wieder Krieg!“ Darüber kann man sich mit jedem unterhalten, in Warschau, Brüssel, Paris, Berlin oder London. Das ist europäisches Erbe. Und die Europäer sind auch in vielen aktuellen Konflikten miteinander verbunden. Überfordert uns Grenzenlosigkeit, wie manche meinen? Wie kann das Theater Neugierde für andere Europäer erzeugen?

Vor zwei Jahren, als im Sommer besonders viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, haben Sie sich gefragt, ob künftig auch arabische Stoffe auf die Bühne gehören. Jetzt besinnen Sie sich auf Europa – ist das nicht auch eine Form von Protektionismus?

Lux: Ja. Identität ist unverzichtbar und nicht verwerflich. Aber ich habe gleichzeitig immer gesagt, dass wir uns mit unserer Nachbarschaft beschäftigen müssen. Und damit meine ich, wenn wir Europa ernst nehmen, nicht mehr nur Kopenhagen und Amsterdam, sondern auch ­Tanger und Kairo, den Maghreb, die Türkei oder sogar Georgien. Wer interessiert sich in Hamburg für Georgien? Erst mal niemand. Trotzdem haben wir mit Nino Haratischwilis „Brilka (Das achte Leben)“ eine Inszenierung im Programm, die aus georgischer Perspektive die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Hier ist Jette Steckel mit dem Ensemble etwas Wunderbares gelungen, wunderbar ist aber auch, dass die Hamburger sich dafür interessieren, weil sie mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede entdecken. Wissen Sie, den Schriftsteller Navid Kermani habe ich 2005 in Wien kennengelernt, da war er noch nicht besonders bekannt. Wir haben ihm damals ein Flugticket nach Tanger geschenkt und ihn gebeten, zum Jubiläum des Burgtheaters, 50 Jahre Wiedereröffnung nach Kriegsende, eine Rede zu halten über die Außengrenzen von Europa. Das war für mich persönlich ein entscheidender biografischer Moment. Wir ­haben unseren eigenen Blick geweitet.

Der Schwerpunkt Europa ist also kein ­neues Konzept für das Thalia Theater, ­sondern die Vertiefung eines Lebens­themas?

Lux: Das kann man sagen. Neu wird es trotzdem sein. Ich stelle mir wirklich eine Verwandlung vor. Aber als Prozess und nicht als Paukenschlag, wir sind ja ein 1000-Plätze-Theater und wollen unser Publikum mitnehmen. Es ist ein Abenteuer. Lassen wir uns überraschen … „Die Welt ist groß, und Rettung lauert überall“ – mit dieser Erkenntnis haben wir 2009 die Gaußstraße eröffnet.