Hamburg. Weil der Stargeiger ausfiel, musste der junge Violinist Ray Chen einspringen. Er rettete den Abend in der Elbphilharmonie.

Das hatte der pensionierte Konzertveranstalter Hans-Werner Funke so natürlich nicht auf dem Wunschzettel stehen: Dass der Solist für den Abend an seinem 80. Geburtstag krankheitsbedingt ausfallen würde. ­David Garrett musste wegen eines Bandscheibenvorfalls, den er Ende ­Januar erlitten hat, mehrere Auftritte absagen, auch den in Hamburg, beim Auftakt der neuen Pro-Arte-Reihe „Faszination Klassik“.

Doch Funke, seine Ehrengäste aus Kultur und Politik und alle anderen ­Besucher der Elbphilharmonie wurden trotzdem reich beschenkt. Denn Garretts Vertreter Ray Chen entpuppte sich, wie vom Moderator Michael ­Becker versprochen, als mindestens ebenbürtiger Ersatz für den Solopart im Tschaikowsky-Violinkonzert.

Von der Nervosität, die Chen beim kurzen Interview im Anschluss charmant einräumte („wie am Weihnachtsmorgen!“), war vorher nicht das geringste zu spüren, im Gegenteil: Der australisch-taiwanesische Stargeiger, Jahrgang 1989, streicht sein Instrument mit einer staunenswerten Souveränität und Perfektion.

Zurücklehnen und unbeschwert genießen

Chen gehört zu jenen Musikern, bei denen man sich einfach zurücklehnen und vollkommen unbeschwert genießen kann, ohne mitzubibbern. Weil sowieso klar ist: Da passiert nichts, aber auch gar nichts, was nicht exakt so gewollt ist; die Finger scheinen wie von selbst über das Griffbrett zu gleiten und ihren Platz nur dort zu finden, wo sie hingehören. Als hätte all das nichts mit Mühe und harter Arbeit zu tun. Und als gäbe es auf seiner Stradivari eben nur richtige Töne.

Der Geiger nutzte diese schlafwandlerische Sicherheit im Zusammenspiel mit Christoph Eschenbach und dem London Philharmonic Orchestra für eine Interpretation des Tschaikowsky-Violinkonzerts, die keine Kanten sucht, sondern runde Bögen findet. Chens süßer Ton liebkost das Ohr. Manche Noten wirkten wie geküsst, andere sanft gestreichelt. Manchmal auch im zarten Pianissimo, für das Eschenbach das Orchester passagenweise auf Schummerstärke herunterdimmte.

Am Ende strahlte Jubilar Hans-Werner Funke

Dafür entfachte er mit den Philharmonikern nach der Pause eine umso größere Leuchtkraft, in einer beseelten Darbietung von Tschaikowskys fünfter Sinfonie. Markig die Trompetenakzente, warm die Farben der Holzbläser. Und beim wunderbar gedeckten Ton des Hornsolos zu Beginn des Andante cantabile schwebte die Frage im Raum, ob man diese Stelle eigentlich jemals schon so schön gehört hat.

Eschenbach brauchte keine Noten, um mit dem Londoner Luxusklangkörper das bittersüße Schmachten der ­Musik auszukosten oder ihren sanften Schwung im Walzer zu entfachen. Im Finale führte er das Orchester in eine blechbläsersatte, aber niemals brachiale Steigerung, die den dynamischen Spielraum der Elbphilharmonie gekonnt ausnutzte.

Der Schlusspunkt eines runden Abends, an dessen Ende nicht nur der Jubilar Hans-Werner Funke strahlte – und wunschlos glücklich wirkte.