Hamburg. Das Abendblatt begab sich auf die Spur des Hamburger Schriftstellers und veröffentlicht einen bislang unbekannten Text.
„Hamburg! Das ist mehr als ein Haufen Steine“, schrieb Wolfgang Borchert 1946 angesichts seiner zerbombten Heimatstadt. Gleich vier seiner Texte tragen ihren Namen im Titel, die Sammlung „Laterne, Nacht und Sterne“ heißt im Untertitel „Gedichte um Hamburg“. Im Laufe seines kurzen Lebens und seiner noch viel kürzeren Zeit als Schriftsteller kreisten seine Gedanken immer wieder um die Elbmetropole. Er trug ein besonders intensives Heimatgefühl hinaus in die Welt und in den Krieg. Vor 70 Jahren, am 20. November 1947, ist der gebürtige Eppendorfer gestorben. Es geschah einen Tag vor der Theaterpremiere seines größten Erfolgs, des Kriegsheimkehrerstücks „Draußen vor der Tür“.
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Kammerspiel-Intendantin Ida Ehre hatte 1947 die Hörspielfassung des Stücks begeistert. Sie besuchte Borchert am Krankenbett und sicherte sich die Aufführungsrechte für das Drama, das im Untertitel heißt: „Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will“. Am 21. November war die Premiere in der Hartungstraße. Vor dem Beginn betrat die Intendantin die Bühne und erzählte dem Publikum, dass Borchert am Vorabend im Alter von nur 26 Jahren gestorben war. Später hat sie sich an die Situation erinnert: „Die Betroffenheit war so groß, dass zunächst nicht applaudiert wurde. Ich weiß nicht, ob es die Betroffenheit war darüber, dass Wolfgang Borchert tot war, oder ob das eindrucksvolle Stück das Publikum derart berührt hatte. Es war jedenfalls unendlich lange still – bis dann ein tosender Beifall ausbrach.“
Empörte Hörerbriefe
Der große Erfolg des Stücks sowohl als Hörspiel – der NDR bekam viele begeisterte und einige empörte Hörerbriefe – als auch auf der Bühne war ein Wendepunkt in Borcherts Leben als Autor. Bis dahin hatte er überwiegend von Rilke und Hölderlin inspirierte Gedichte geschrieben. In der Nachkriegszeit entwickelte er neue Qualitäten in Kurzgeschichten über den Krieg und seine Folgen.
Stilistisch an Short Storys von Hemingway oder Wolfe angelehnt, durchströmt Borcherts beste Texte wie „Nachts schlafen die Ratten doch“ oder „Die Küchenuhr“ eine Mischung aus Wut, Trauer, tief empfundener Menschlichkeit und manchmal sogar Humor. Sein letzter Text, das 1947 verfasste Antikriegsmanifest „Dann gibt es nur eins! (Sag NEIN!)“ gilt als sein Vermächtnis. Wurden Borcherts Texte in der Nachkriegszeit gelobt und gewürdigt – er bekam eine Einladung zu einem Treffen der Gruppe 47, konnte aber krankheitsbedingt nicht mehr teilnehmen – reduzierte die Literaturwissenschaft ihn in den kommenden Jahrzehnten zum „Schulbuchautor“.
Heinrich Böll hielt große Stücke auf ihn
Heinrich Böll hielt große Stücke auf den Kollegen. Wolfgangs Mutter Hertha Borchert, die Böll zum Literatur-Nobelpreis gratuliert hatte, antwortete er 1973 in einem Brief: „Ich lese manchmal noch Borcherts Geschichten und finde sie immer noch und immer wieder als neu! Entgegen all den ,überklugen‘ Urteilen mancher, die sich für ,eingeweiht‘ halten.“ Auch zeitgenössische Künstler haben noch ein Faible für den Autor. Der Schriftsteller Benjamin Lebert schilderte in einem Abendblatt-Interview seine „emotionale Beziehung“ zu Borchert. Regisseur Andreas Dresen verfilmte 1988 die Geschichte „Nachts schlafen die Ratten doch“.
In der Schule ist auch Hans-Gerd Winter den Texten des Hamburger Autors zum ersten Mal begegnet. Der emeritierte Germanistik-Professor ist Vorsitzender der Internationalen Wolfgang-Borchert-Gesellschaft. Ihm gefällt die Festlegung des Autors auf ein Label nicht. „Einerseits kann man ihn als Autor der ,Trümmerliteratur‘ einordnen, andererseits legt ihn das zu sehr fest“, sagt Winter. „Er hat ja auch heitere Geschichten geschrieben, die Familiengeschichten etwa oder ,Schischyphusch‘. Als Kabarettautor hatte er Komik und Humor.“
Theater antworten mit Borchert
Die aktuelle weltpolitische Lage habe für eine Erneuerung des Interesses an dem Autor geführt, so Winter: „Seit in Ländern wie Syrien wieder Kriege im Vordergrund stehen, antworten die Theater mit Borchert.“ Es gebe zurzeit einen regelrechten „Borchert-Boom“. In der Spielzeit 2014/15 habe es zehn Premieren von „Draußen vor der Tür“ gegeben. Das Ohnsorg Theater will ihn bald auf Platt spielen.
Zwei Drittel der etwa 200 Mitglieder der Borchert-Gesellschaft kommen aus Norddeutschland, „wir haben in jedem Erdteil Mitglieder, aber manchmal ist es pro Land nur einer, wie in Australien oder Japan“, sagt Winter. Die Werke Borcherts sind bislang in rund 40 Sprachen übersetzt worden, zum Beispiel in diesem Jahr ins Hebräische für eine Theateraufführung von „Draußen vor der Tür“ in Tel Aviv. Luk Perceval hatte das Stück 2011 erfolgreich am Thalia Theater inszeniert. In dieser Saison gibt es vergleichsweise wenige Neuinszenierungen, weil 70 Jahre nach dem Tod des Autors die Rechte auslaufen, die bisher der Rowohlt Verlag gehalten hat. Danach sind keine Tantiemen mehr fällig.
„Der Name Borchert-Schule verloren“
Winter erzählt all das im Altbau der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, wo das Wolfgang-Borchert-Archiv seinen Sitz hat. Hier findet man neben seinen Werken und der Sekundärliteratur über ihn auch einen Teil seines Alsterdorfer Wohnzimmers aus der Carl-Cohn-Straße 80. Den Schreibtisch mit dem Buddelschiff darauf, seine gut bestückten Bücherregale, eine Plastik des befreundeten Bildhauers Carl Beckmann, nach dem er den Protagonisten aus seinem Theaterstück „Draußen vor der Tür“ benannte, eine Karte mit Bild und Widmung des von Borchert geschätzten Malers Emil Nolde und die Küchenuhr, „Hauptdarstellerin“ der gleichnamigen Kurzgeschichte.
Auch an der frischen Luft findet man in Hamburg Erinnerungen an den Autor. In die nach ihm benannte ehemalige Haupt- und Realschule in der Erikastraße soll eine Grundschule einziehen, als Marie-Beschütz-Schule. „Der Name Borchert-Schule geht also verloren. Das ist peinlich für Hamburg, denn außerhalb gibt es sieben Schulen, die seinen Namen tragen“, so Winter.
Nicht immer der Schmerzensmann
Die Schule ist auch eine Station des literarischen Rundgangs, den das Stadtteilarchiv Eppendorf zweimal im Jahr anbietet. Sie führt von seinem Geburtshaus in der Tarpenbekstraße über sechs Stationen bis hin zum Eppendorfer Marktplatz, wo an der Friedenseiche eine Bronzetafel mit Worten aus seinem Pamphlet „Dann gibt es nur eins“ aufgestellt ist. „ Es kommen Leute mit Rollator, aber in jüngster Zeit auch viele, die erst um die 30, 40 Jahre alt sind“, erzählt Spaziergangsleiterin Sabine Maurer. Beim Rundgang nicht mit dabei, weil zu weit entfernt, ist Borcherts Grab auf dem Ohlsdorfer Friedhof, dort ruhen auch seine Eltern.
Wolfgang Borchert war nicht immer der Schmerzensmann, als der er vielen in Erinnerung geblieben ist. Kurz bevor er Soldat wurde, bestand er die Schauspielprüfung und bekam ein Engagement an der Landesbühne Osthannover. Dort freundet er sich mit seiner Kollegin Heidi (Pulley-)Boyes an. In den erhaltenen Liebesbriefen hoffte er auf ein baldiges Wiedersehen. „Diese beiden Hoffnungen geben dem Leben noch einen Sinn, und dieser Sinn heißt: Heidi! (Da liegt für mich alles drin: Theater, Liebe, Leben, Kunst, Engel und Hure – alles!)“ In einem anderen Brief schreibt er: „Der schönste Tag in der Zukunft ist, wenn wir zum erstenmal wieder zusammen spielen! Dann werde ich dir vor Freude so doll die Hand drücken, daß dir Hören und Sehen vergeht! (Abends mache ich dann noch ganz was anderes – o wei!)“
„Wir waren ein komisches Paar“
65 Jahre nachdem die ersten Briefe geschrieben wurden, haben Michael Töteberg, Herausgeber von Borcherts Werken, und das Abendblatt Heidi Pulley-Boyes in Eppendorf besucht. Die geistig hellwache Dame lebte in ihrem Atelier, sie war Malerin geworden. „Wir waren ein komisches Paar“, erinnerte sie sich. Ich sehr klein, er sehr groß. Er hatte immer ganz heiße, feuchte Hände vor lauter Aufregung. Aber wir mochten uns auf Anhieb.“ 1943 hat sie ihn im Lazarett besucht. Danach sollte er eigentlich dienstuntauglich entlassen werden. Aber er erzählte politische Witze, wurde denunziert und verhaftet. Man schickte ihn zurück an die Front. Danach war er todkrank.
Bei der Premiere von „Draußen vor der Tür“ in den Kammerspielen hat Heidi Pulley-Boyes auf Wunsch von Borchert die Elbe gespielt. Im vergangenen Dezember ist sie im Alter von 99 Jahren gestorben.