Hamburg. „Was vom Tage übrig blieb“: Der Nobelpreis für Literatur geht in diesem Jahr an den britischen Schriftsteller Kazuo Ishiguro.

Einen so lauten Paukenschlag wie im vergangenen Jahr gab es diesmal nicht, das geht freilich auch gar nicht: Ein Musiker wie Bob Dylan als Träger der höchsten literarischen Auszeichnung, das ist wohl ein singuläres Ereignis. Es ist der Brite Kazuo Ishiguro, der nun den Nobelpreis für Literatur des Jahres 2017 erhält. Das gab das Nobelpreis-Komitee am Donnerstag in Stockholm bekannt. Ishiguro werde für „seine Romane von starker emotionaler Kraft“ ausgezeichnet, wie es in der ­Begründung der Jury heißt, und weiter: „Darin legt er den Abgrund unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt bloß.“ Jury-Chefin Sara Danius brachte Ishiguro, den „brillanten ­Romanautor“, mit europäischen Erzähltraditionen in Verbindung. Er sei „eine Kreuzung aus Jane Austen und Franz Kafka“, ein sehr authentischer Schriftsteller, der seine eigene Ästhetik entwickelt habe, sagte Danius.

Ishiguros berühmtester Roman heißt „Was vom Tage übrig blieb“ und erschien 1989, ein Sittengemälde Englands in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Seitdem war
Ishiguro ein weltweit gelesener Autor – zu den Nobelpreis-Favoriten gehörte er nach Auffassung der Experten freilich nie. Aber die Wege der schwedischen Jury sind bekanntlich unergründlich, und so scheint sie es auch für opportun zu halten, mit Ishiguro nach Alice Munro (2013) und Dylan zum dritten Mal in fünf Jahren einen Autor zu küren, der im Englischen zu Hause ist.

Jury möchte unberechenbar sein

Kazuo Ishiguro wurde 1954 in Nagasaki geboren und kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. Sein Werk schlägt oft den Bogen zwischen Europa und Asien. Die ersten beiden Romane „Damals in Nagasaki“ (1984) und „Der Maler der fließenden Welt“ (1986) handeln von den Erlebnissen japanischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg.

Was durchaus einen Hinweis darauf gibt, dass der japanische Kulturkreis nicht uninteressant ist für die ohnehin längst globalisierten Leser. Der Meistersurrealist Haruki Murakami zählt seit Jahren zu den Anwärtern für den Nobelpreis. Was, wenn man die anderen ewigen Favoriten Don DeLillo, Péter Nádas, Javier Marías, Amos Oz, den Kenianer Ngugi Wa Thiong’o oder auch Peter Handke betrachtet, wohl eher ein Nachteil ist: Die Jury möchte unberechenbar sein. Ist ja auch irgendwie gut, dass am Ende nicht immer derjenige gewinnt, der beim Wettanbieter Ladbrokes in den Tagen vor der Kür ganz oben steht.

Fader Beigeschmack

Und dennoch bleibt ein fader Beigeschmack, wenn nun das Englische in kurzer Zeit so häufig gewürdigt wird – sind das die anderen Auswirkungen der Globalisierung neben der Weltoffenheit? Proporzdenken kann man der Jury jedenfalls wahrlich nicht vorwerfen.

Auf gewisse Weise dürfte ihre Entscheidung für einen leicht verkäuflichen Autor wie Ishiguro auch eine Konzessionsentscheidung für den Buchhandel sein. Der darf in seine Auslagen nun das Werk eines wahrlich nicht langweiligen und monothematischen Autors stellen, der in gefälligem Stil fremde Lebenswelten erschließt – und in seiner Karriere im Übrigen zu Recht häufig gewürdigt und mit Preisen bedacht wurde.

Als Kazuo Ishiguro vor zwei Jahren seinen neuen Roman „Der begrabene Riese“ vorlegte, war das Erstaunen groß. Der Autor platziert die Handlung dieses Buchs ins fünfte Jahrhundert. In seinem Buch trifft man auf magische Nebel, Ritter und Drachen. Es war Ishiguros erster Besuch der Fantasy-Literatur, bestaunt und allenthalben gelobt. Ein erneuter Beweis der Vielseitigkeit dieses Autors, der sich schon in vielen Genres ausprobiert hat. Ishiguro besitzt große stilistische Eleganz, eins seiner wiederkehrenden Themen ist der Umgang mit dem Vergessen.

Englischer Mythos

In „Was vom Tage übrig blieb“, seinem bekanntesten Roman, schreibt Ishiguro über einen englischen Mythos, den Butler. Der Protagonist, Stevens, ein ältlicher Mann, ist in einer Lebenslüge gefangen. Er glaubt an die Größe und Bedeutung seiner Aufgabe, die Gutherzigkeit seines adligen Arbeitgebers und will nicht sehen, dass der ein Nazi-Kollaborateur war.

Seine Ideale, auf die er sein Leben gebaut hat, erweisen sich als falsch, sie zerstören letztlich Stevens. Äußerlich ist der Roman eher ruhig und ereignisarm, enthüllt aber beim Umgang mit Fragen nach Größe, Würde und dem Englischsein tragische Größe. Salman Rushdie hat den Roman in einer Rezension als brillant bezeichnet. In seinem sechsten Roman „Alles, was wir geben mussten“ (2005) wagte sich Ishiguro dann auf das Gebiet der Dystopie: Im Internat Hailsham wachsen Kinder unter strenger Aufsicht heran. Die Ide­ale der Institution werden im Unterricht hochgehalten. Als junge Erwachsene werden die ehemaligen Schüler dann ihrer wahren Aufgabe zugeführt. Sie sind als Organspender „gezüchtet“ worden und werden dann so lange ausgeschlachtet, bis ihr Körper den Raubbau nicht mehr mitmacht und sie jung sterben. Es ist eine schreckliche Welt, die der Autor da beschreibt, manche Szenen wirken geradezu kafkaesk.

Neun Millionen schwedische Kronen

Aus seinem bislang letzten Roman „Der begrabene Riese“ las Ishiguro übrigens vor zwei Jahren auf dem Harbour Front Literaturfestival. In der St. Pauli Kirche lauschten die Hamburger gebannt seinen Ausführungen über Erinnern und Vergessen. Wer Ishiguro bislang noch nicht kennt, der darf das Werk dieses Könners nun entdecken – und wird nicht enttäuscht werden.

Der Nobelpreis ist in diesem Jahr mit neun Millionen schwedischen Kronen (rund 940.000 Euro) dotiert.