Hamburg. Der Hamburger Autor erzählt in seinem neuen Buch „Lichter als der Tag“ vom Beziehungswirrwarr gelangweilter Großstädter.
Was für ein Durcheinander dieser Mann „im besten Alter“ – so sagt man doch? – sich da eingehandelt hat. Mit der Ehefrau verbinden Raimund Merz vor allem die beiden gemeinsamen Töchter. Und was den Job angeht, wird er von den Kollegen wegen dringenden Oldtimer-Verdachts eher als Maskottchen betrachtet. Während die Gattin ein Mehrfaches als er verdient, übrigens; gut so, denkt man sich. Wenn man in Hamburg gutbürgerlich leben möchte, muss auf der Einnahmeseite alles passen.
„Gut so“ – wirklich? Sind die Protagonisten in Mirko Bonnés neuem Roman „Lichter als der Tag“ von ihrem Erfinder nicht eher dergestalt gecastet, dass man sich in sie hineinarbeiten muss? Man tritt ihnen immerhin mit einer soliden Halbsympathie entgegen, schließlich ähneln die Lebensläufe dieses Raimund Merz, seiner Frau Floriane und der Jugendfreunde Moritz und Inger unseren Lebensläufen.
Angekränkelte Wohlstandsmitteleuropäer
Es sind die insgesamt von keinerlei materiellen Mängeln angekränkelten Wohlstandsmitteleuropäer, die den Roman bevölkern. Sie dürften in etwa das Geburtsjahr des zur sogenannten Babyboomer-Generation gehörenden Autors Mirko Bonné (Jahrgang 1965) haben, aber der Befund passt auch zu den später auf die Welt Gekommenen: Zu viel Entscheidungsfreiheit führt zu allerlei biografischen Kalamitäten.
In seinem Familien- und Liebesroman, den man genauso gut als Antifamilien- und Antiliebesroman lesen kann, erzählt der sensible Menschenbeschreiber Bonné eine alte Geschichte: Es ist die eines Menschen in der Krise. Schon in seinem für den Buchpreis nominierten Roman „Nie mehr Nacht“ gelang es dem hauptsächlich als Lyriker in Erscheinung tretenden, seit vielen Jahren zur weitläufigen Hamburger Literaturszene gehörenden Bonné, Familienbeziehungen auf warmherzige, aber nicht sentimentale Weise zu beschreiben.
Ein Mann als amouröse Vollkatastrophe
Im ewigen Spiel von Nähe und Distanz hat er sich mit Raimund, dem die Kommilitonen während des Studiums in England ein deutlich zeitgemäßeres „Ray“ verpassten, einen an den Routinen des Alltags mürbe gewordenen Helden ausgesucht. Und er stattet den Journalisten, der bei dem Nachrichtenmagazin „Der Tag“ arbeitet und dort so etwas wie Redakteur ist, aber nicht ganz, eher so eine Art Gehilfe, mit den Attributen des romantischen Tragöden aus. Raimund leidet nicht nur an der Gegenwart, sondern auch an der Vergangenheit. Er hat, wie wir alle, manches in seinem Leben verdrängt.
Eigentlich hat er nämlich Inger geliebt, die aus Dänemark nach Stormarn gezogene Vollwaise, die dort an der Hamburger Peripherie das Freundesquartett vervollständigt. Inger also und nicht Floriane, die wiederum eigentlich Moritz liebte und nicht Raimund. Als Moritz und Inger zueinanderfinden, vereinen sich auch Raimund und Floriane. Ein spiegelbildlicher Trostpreis. Die Frage, wie aus einer solchen Verliererliaison eine glückliche Ehe werden kann, stellt Bonné nur am Rande.
Unaufgeregte Sprache
Es geht ihm eher darum, am Beispiel des Insektenkenners Raimund – Bienen waren schon immer hilfreich in der Sexualkunde – den Mann voll in der Mittellebenskrise zu erwischen. Und ihn dann den Versuch unternehmen zu lassen, der eigenen Geschichte eine Wendung zu geben. Das flüchtige Wiedersehen mit Inger erst am Bahnhof, dann in der Nähe des großen Friedhofs reißt ihn aus seiner Lethargie und gefährdet den Bestand der Familie. „Ohlsdorf!“, schreit Raimund im Dämmerschlaf. Kein Wunder, dass ihn Frau und Tochter für verhaltensaufällig halten.
In einer Sprache, die sehr zu Recht für ihre Unaufgeregtheit gelobt worden ist, fächert Bonné die Stormarner Wahlverwandtschaften, die mehrere Male neu kombiniert werden, in einer Rückblende auf. Da ihm an Spannungseffekten gelegen ist, verrät er die dramatischen Vorgänge und die stammbäumliche Pointe der Ménage-à-quatre nicht gleich. Man sieht sie freilich überdeutlich kommen – der Rest wird hier verschwiegen, wir wollen nicht spoilern.
Zwischenmenschliche Unwuchten
In der Beschreibung der persönlichen und zwischenmenschlichen Unwuchten erweist sich Bonné als mal prägnanter („Die Dinge hatten sich geändert, und das Leben war nicht weitergegangen. Es hatte nur den Anschein gehabt“), mal lahmer („Sie war wirklich furchtbar aufgebracht“) Erzähler. Psychologie und Figurenkonstellation sind in vielerlei Hinsicht schlüssig, dennoch bleibt einiges in diesem Roman unterbelichtet.
Sei es, dass man die existenzielle Freundschaft von Raimund und Moritz im Fortgang der Lektüre immer mehr für eine bloße Behauptung hält, sei es, dass man bisweilen Bonnés Selbstgenügsamkeit als störend empfindet: Auch angesichts gelungener Passagen, in denen die Verzweiflung Raimunds greifbar wird, bleiben Lücken. „Nicht viele im Dorf mochten einander“, heißt es einmal. Darüber hätte man dann doch gerne mehr erfahren.
Familienroman für Beinah-Patchworker
Wie ließe sich „Lichter als der Tag“ auf den Punkt bringen? Vielleicht so: der Familienroman für Beinah-Patchworker. Oder: wenn Männer gar nichts auf die Kette kriegen. Oder: wenn Männer amouröse Vollkatastrophen sind. Nämlich falsch verbunden oder lieber gar nicht verbunden, dafür aber im lockeren Beziehungsnebeneinander mit mehreren Frauen assoziiert, die von den Nebendamen jeweils nicht wissen. So anzutreffen beim Womanizer Bruno, dem besten Freund des Helden, der unfähig zur Zweierbeziehung ist, aber verglichen mit den Geschlechtsgenossen damit immer noch am besten fährt.
Als soziologische Studie des männlichen Liebesvermögens will „Lichter als der Tag“ nicht herhalten müssen, man hat es ja mit einem Roman zu tun. In seinem angenehm lakonischen Ton ist Bonné einerseits in der Lage, Lebenswelten wie die der Tankstellen-Dynastie, der Moritz entstammt, auf kleinem Raum zu umreißen. Andererseits packen einen die Figuren nicht immer. Das mag auch daran liegen, dass diesen Figuren (oder ihrem Schöpfer) manchmal nur ausgeblichene Sätze wie dieser einfallen: „In ihrem Innern entdeckte sie eine vergessene Sprache, die außer ihr nur Raimund verstand.“
Die Konstruktion des Romans ist übrigens nicht unbedingt wackelig, aber auch nicht wirklich ausgefeilt zu nennen. Das Licht „schien zu warten, nicht bloß auf Reisende, die aus dem Zug stiegen und verblüfft waren von der Helligkeit, der Herrlichkeit, mit der die Hansestadt sie willkommen hieß“ – das Buch ist sicherlich auch ein Hamburg-Roman. Aber im letzten Teil, nach einer überraschenden erzählerischen Volte, die in ihren Details viel zu unmotiviert erscheint, ist der Fluchtpunkt sowohl von Handlung als auch Hauptfigur wie schon im vorangegangenen Bonné-Roman Frankreich. Während Raimund als Drama-Queen auch vor Kindesentführung nicht zurückschreckt, ist es sein Buddy Bruno, der daheim in Hamburg als Recherchierender zu ergründen sucht, warum mit Raimund denn nun die Gäule durchgingen. Immerhin sorgt er damit für das freundliche Ende des Liebes-Wirrwarrs.
Mirko Bonné liest am 21.9., 21 Uhr, auf Einladung des Hamburger Literaturhauses und im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals auf der „Cap San Diego“.