Brief an die Mutter: „Erzähl mir nichts von Nächstenliebe“ des Hamburger Autors Wolfgang Borchert.

Der kleine Ketzer
Ma chere mama, du versuchst es jede Minute, mich mit Jesus vollzustopfen. Hier steh ich dir mit zwanzig Tropfen ­erlauchter Tinte schnodderiger Rede.


Trost in der Religion?

Ich will vom Leben nicht getröstet werden, ich will nicht glücklich und zufrieden sein – das ist nicht unser Sinn auf Erden: zufrieden ist der Käfer und das Schwein!

Christliche Geduld

Ich hasse diesen Kreuzes-Kult und diese unerotische Geduld. Ich häufe lieber Schuld auf Schuld Um eines Augenblickes süße Huld!

Amouren – so und so
Erzähl mir nichts von Nächstenliebe! La femme hat zwar ein süßes Angesicht – doch war einmal ein Kriegsgericht und: darauf reimt sich höchstens Hiebe!

Einkehr
Verlangt das Herz nach innerer Erbauung, warum mit Bibelworten fasten? Zwar ist das besser für die seelische ­Verdauung, allein Homer greift voller in die Tasten.

Vom Glauben
Warum soll Christus meines Glaubens Mitte sein? Ich glaub an Shakespeare, Bach und Goya. Man kann doch auch für Nietzsche oder Rilke sein, vielleicht für Dionysos, für Steiner und Loyola.

Oder nicht?
Den Sinn des Lebens kann ich wohl erkennen: zu leben und dran verbrennen! Wer sich sein Leben nach dem Sinn verquält, der hat den Sinn verfehlt!

Ich sterbe meinen Tod
Und was das Sterben anbetrifft: Für mich ist Christus nicht gestorben! Im Augenblick genieß ich unverdorben, daß Charon mich hinüberschifft.

Kreislauf
Um meinen Körper hab ich keine Bange – der ist bei Wurm und Made bestens aufgehoben. Das große Karussell bleibt stets im Gange: Als Distel bin ich morgen wieder oben!

Der große Unbekannte
Und Gott? fragst du, wo läßt du ihn? Im Unbekannten, wo er immer war. Denn dort auch hat er mir verziehen, daß ich so jeder Ehrfurcht bar.

Ich bete auch
Sag nicht, mir fehle es an Tiefen! Ich fühl mich andächtig und klein, bin ich mit einem Mädchen oder einer schiefen hellgelben Hundeblume Aug in Aug allein.

Wo ist Mephisto
Doch dies sag ich ihm ins Gesicht: Vielleicht bist du die Liebe und das Sein, doch gut, Gott, bist du nicht –
von wem soll sonst das Böse sein?


Exodos

Oh, mother dear, du liest hier meine ehrfurchtslosen Thesen – ich hoffe, daß du sie beniest – sonst weihe sie dem Besen!

(Typoskript, 17. Juli 1945, Auszug)

Das Copyright für diesen Text liegt beim Rowohlt-Verlag