Hamburg. Premiere: Ersan Mondtags düstere Demokratie-Vision am Thalia Theater überzeugt eher visuell als inhaltlich. Merkel-Parodie irritiert.

Das Podest mit den ­Figuren aus dem Geschlecht der Atriden dreht sich apart vor einer steinernen Kulisse mit altgriechischen Olympioniken. Eingefrorene Körper. Ein erhabenes Bild. Aber auch eine Arena. So friedlich pathetisch wird es nicht bleiben. „Die Orestie“ des griechischen Dichters Aischylos, man ahnt es bereits, ist eine Folge von Gemetzeln, Göttersprüchen, Familientragödien. Mit einer solchen fängt es auch an in der Lesart des hoch gehandelten Regiewunderkindes Ersan Mondtag im Thalia Theater.

Die Schauspieler posieren wie Statuen

Agamemnon (staatstragend noch als wandelnde Leiche: André Szymanski) kämpft gegen Troja, doch die Flotte braucht Wind. Die Götter versprechen Hilfe, verlangen aber den Opfertod seiner Tochter Iphigenie. So geschieht es. Troja fällt. Iphigenies Mutter Klytaimnestra (düster: Marie Löcker) sinnt auf Rache. Der erste Teil der Dramentrilogie umreißt ausführlich die Ausgangs­lage, die hier fast schon opernhaft von einem Bürgerchor und der klassisch inspirierten Trompeten- und Posaunenmusik von Max ­Andrzejewski aufbereitet wird. Nicht nur die Posen wirken statuesk, auch die Inszenierung hat ­etwas von einer ­Museumsinstallation.

Die ist von einem eigenartig abgeklärten Pathos, das allerdings optisch gebrochen wird durch die Ausstattung. Josa Marx hat sämtliche Figuren in hübsche Rattenkostüme gesteckt, mit tollen Frisuren, inklusive Spitznase, Barthaar und langem Schwanz. Die Tier­metapher erklärt sich schon bald. Klytaimnestra ermordet ihren Gatten Agamemnon und zieht statt seiner ­Aigisth (als machtgieriger Kobold: Paul Schröder) zu sich ins Bett. Agamemnons Geliebte, die Seherin Kassandra, deutet als kreischendes Baby an, dass sich die Familiendynamik weiterspinnt.

Mondtags Ästhetik speist sich aus Verweisen der Popkultur

Nach einer Stunde ist es mit der Statik vorbei. Das Kulissentuch fällt und gibt den Blick frei auf ein Parkhausrund aus Beton, das sich mittels Drehbühne hinterrücks in eine von Paula Wellmann toll erdachte triste graue Plattenhaussiedlung mit rührend bunten Balkonen verwandelt. Und prompt sucht man nach Bezügen des antiken Geschehens im Heute. Das Volk ist immer präsent, mal stumm, oft wütend. Der sprach­gewandte Strippenzieher Chaos (mit künstlicher Emphase: Thomas Niehaus) lenkt das weitere Geschick.

Und da rückt Agamemnons Sohn Orest (Sebastian Zimmler) ins Bild. Ein Zerrissener, der auf Geheiß Apolls den Vatermord rächen will. Am Grab begegnet er zunächst seiner Schwester ­Elektra. Mondtag liebt nicht nur fast ­geschlechtslose Fantasie-Kostümierungen, sondern auch vertauschte ­Ge- schlechterrollen. So steckt Björn Meyer in einem roten Wallegewand mit Zopfperücke. Damit degradiert Mondtag allerdings die Tragik der ­Begegnung ins Lächerliche. Die Mord­szene spult sich ab wie ein Groschenkrimi, bei dem Zimmlers facettenreich zwischen Verzweiflung und Grausamkeit schwankender Orest mit blutigem Schlachtmesser hinter Fenstern wandeln muss. Nach vollbrachter Tat deliriert Orest von ­Rachegeistern geplagt vor dem Vorhang, stolpert in die erste Zuschauerreihe und steht als endgültig Gebrochener wieder auf.

Mondtag zeigt sich in seiner ersten Arbeit auf der großen Bühne ausstattungsverliebt. Er baut gerne eigene Welten, die sich wie auf einem eigenen Planeten abspielen. Die Bilder dazu sehen zugegeben verdammt gut aus, strotzen vor ästhetisch klug arrangierten popkulturellen Verweisen, von Zombie-Horror und Science Fiction bis hin zu den Universen des David Lynch, verdecken aber hier nur, dass der Regisseur sich nicht wirklich ernsthaft mit der Vorlage ­befasst hat. Die Figuren bewegen sich darin wie Roboter, auch die an „Matrix“ angelehnten schwarzen Kostüme und Frisuren malen ein dunkles Gesellschaftsbild. Angesichts der Inhaltsschwere ergibt das ­jedoch eine seltsame Schieflage. Je weiter der sich auf dreieinhalb Stunden erstreckende Abend ausdehnt, desto mehr flüchtet sich Mondtag in Albernheiten und Klamauk.

Mit der Inszenierung kein großer Wurf gelungen

Am Ende der „Orestie“ steht eigentlich die Geburt der Demokratie. Vor einem demokratischen Gerichts­tribunal spricht die den Vorsitz führende Athene in einer Willkürentscheidung Orest von seiner Schuld frei. Der Bürgerchor kann dazu sagen und summen, was er mag. Dass Cathé­rine Seifert Athene als überdeutliche Merkel-Parodie mit gezirkelten Rautenhänden und SMS-Sucht anlegt, kommt so unvermittelt wie irritierend. Athene kann das Volk am Ende noch so sehr mahnen, die Wut und den Hass zu ­besiegen und noch so laut „Besinnt euch!“ rufen. Die Protagonisten nehmen auf dem ­Anfangsrund ihre Posen ein – und das Rad der Blutrache dürfte sich munter weiterdrehen. Das ist eine durchaus schlüssige aber ernüchternde Haltung gegenüber dem Stück. Auch eine sehr düstere Vision, was das Vertrauen in Mehrheitsentscheidungen angeht. Man kann Mondtag für seine Fantasiewelten schätzen. Auch für seine erfrischende Unangepasstheit. Ein großer Wurf ist ihm mit dieser Inszenierung noch nicht gelungen.

„Die Orestie“ weitere Vorstellungen 26.10., 19.30, 29.10., 17.00, 11.11., 14.00, 13.11., 20.00, Karten unter T. 32 81 44 44;
www.thalia-theater.de