Hamburg. Russischer Abend in der Elbphilharmonie – mit einer übermütigen, brillanten Anna Vinnitskaya am Flügel und Krzysztof Urbanski am Pult.
Der junge Schlaks tritt flockig auf, das Haar auf Sturm gegelt, am Pult tänzelt er gern mal und lässt das linke Bein um die locker aufgesetzte Schuhspitze kreisen. Aber man soll sich nicht täuschen: Krzysztof Urbanski ist unerbittlich in dem, was er will. Wie beim jüngsten Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters in dessen Wohnzimmer, pardon: im Großen Saal des Konzerthauses, zum allseitigen Glück zu erleben war.
Ein rein russisches Programm hatten die Musiker und ihr Erster Gastdirigent auf den Pulten, offenkundig ein Repertoire, in dem sich Urbanski zu Hause fühlt. Als Hors d’oeuvre, begleitet von viel Champagner, servierten die Künstler das wenige Minuten kurze „Scherzo à la russe“ von Strawinsky, der Entstehungsgeschichte nach ein schnödes Auftragswerk in finanziell knappen Zeiten des nach Amerika Emigrierten.
Die Musik schwebte förmlich vor Spannung
In seiner Motorik – nur bei der Koordination zwischen Sologeige, Trompete und Klavier schien der Kellner mit seinem Tablett kurz ums Gleichgewicht zu ringen – klang das Scherzo fast wie eine Spieluhr, allerdings wie ein freches, ausgesprochen unbehäbiges Exemplar. Die Musik schien keinen Anfang und kein Ende zu haben, sie schwebte förmlich vor Spannung, schnarrte mal wie Ravels „Boléro“ und wob dann wieder fernöstliche Himmelstöne ineinander. Ein Kleinod mit deutlicher Signatur seines Schöpfers.
Die Pianistin Anna Vinnitskaya räumte dann beim Zweiten Klavierkonzert von Prokofjew gründlich auf mit Strawinskys augenzwinkernder musikalischer Häppchenkultur. In aller Ruhe spannte sie die Gedanken auf und ließ die verschiedenen Rhythmen sich so aneinanderreiben, dass jede der kleinen Kollisionen ein eigenes Profil bekam, wie ein kurzes Staunen auf einer langen Wegstrecke. Vinnitskaya hat nicht umsonst den legendären Königin-Elisabeth-Wettbewerb gewonnen.
Fortissimo-Läufe wie im Exzess
Längst hat sie unter Beweis gestellt, dass sie sich noch von den hanebüchensten spieltechnischen Hürden nicht daran hindern lässt, die Musik auf ihren Gehalt zu befragen. Das horrend schwierige Klavierkonzert bot ihr einmal mehr Gelegenheit dazu: In der Kadenz des Kopfsatzes vollführte sie die beidhändigen Fortissimo-Läufe und wilden Sprünge wie im Exzess, schien sich völlig zu verausgaben und hatte doch immer noch Reserven für eine weitere Steigerung. Von solchem Tumult konnte sie binnen weniger Töne in einen resignierten oder auch zärtlichen Tonfall wechseln.
Das Publikum folgte gebannt und ohne die in der Elbphilharmonie so häufig mitwabernden Unaufmerksamkeitsgeräusche. Als Wahlhamburgerin und Professorin an der hiesigen Musikhochschule ist Vinnitskaya das lebendige Gegenstück zum Propheten, der im eigenen Lande angeblich nichts gilt. Die Leute wollten sie partout nicht gehen lassen, und was gab sie schließlich zu? Einen „Puppentanz“ von Schostakowitsch, eine Miniatur im Dreierrhythmus, an der sie noch einmal wie in einer Nussschale ihren souverän sparsamen Interpretationsstil vorführte. Schnörkellos klar im Metrum und ohne alles Gefühlige, Süßliche bezog sie ihren Ausdruck aus nichts als hauchfeinen Atempausen, dynamischen Nuancen und Klangfarben. Und rührte gerade mit dieser Schlichtheit zu Tränen.
Urbanski war der Löwenbändiger
So übermütig das Prokofjew-Klavierkonzert geendet hatte, so tiefschwarz begann nach der Pause die Fünfte Sinfonie von Schostakowitsch. Doch trotz dieses Kontrasts zeigte sich, wie die drei Komponisten bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Biografien doch aus ähnlichen Strömungen schöpften. Jeder von ihnen hatte seine eigene Geschichte mit der russischen und später sowjetischen Heimat, aber das Ironische, Sarkastische muss in der Luft gelegen haben, zumindest für die, die sich dem Postulat einer leicht verständlichen Arbeiter- und Bauernmusik widersetzten.
Zu Schostakowitschs Handschrift gehört es ohnehin, in der Fünften stand aber an diesem Abend das Persönliche, Bekenntnishafte im Vordergrund. Verzweiflungs- oder Wutausbrüche des Tuttis ließen immer wieder Raum für ausgedehnte, tieftraurige Bläserkantilenen über den Weiten fast unhörbarer Streicherflächen. Was für ein schönes Zeichen des Vertrauens, dass der Löwenbändiger Urbanski seine Orchestersolisten mit kleinen Gesten mehr eskortierte als dirigierte.
Die Musik wäre aber nicht von Schostakowitsch gewesen, wenn die Klagemelodien nicht immer wieder unversehens in eine grelle Harmonik gemündet wären und den Hörer an der eigenen Empfindung hätten zweifeln lassen. Treffender konnte der Komponist die eigene Einsamkeit kaum in Töne fassen. Und bildhafter, schärfer, kompromissloser kann man seine vielgestaltige Musik kaum spielen.