Ein Interview mit Generalmusikdirektor Kent Nagano über die Erlebnisse der letzten Saison, die Elbphilharmonie und Hengelbrock.

Die Sommerpause ist vorbei. Die Erlebnisse des G20-Konzerts, bei dem er Beethovens Neunte in der Elbphilharmonie ­dirigierte, sind bleibende Erinnerungen. Für Generalmusikdirektor Kent Nagano hat der philharmonische Alltag wieder begonnen. Zwischen zwei „Parsifal“-Proben – am Sonnabend ist Staatsopern-Premiere – bleibt genügend Zeit für eine Bilanz der vergangenen, einzigartigen Elbphilharmonie-Eröffnungssaison, vor allem aber für einen Ausblick auf das, was nun erst kommen soll.

Bevor wir nach vorne sehen, ein Bilanzblick zurück: Auf einer Skala von 1 bis 10, wie war die erste Saison mit Elbphilharmonie für Sie?

Kent Nagano: Natürlich ist die Akustik sehr wichtig gewesen, wie das Gefühl der Gesellschaft dort ist, und ob man das Gefühl hat, dass Musik dort lebendig werden kann. Die ersten Monate ­waren ungewöhnlich erfolgreich. Aber ich erwarte etwas mehr von einem Konzerthaus. Es ist auch eine Einladung, das Signal eines Prozessbeginns. Dass und wie die Menschen im Treffpunkt Elbphilharmonie zusammenkommen, ist ein riesiger Erfolg. Dieses Statement ist auch eines für die nächsten Generationen. Deswegen muss ich auf jeden Fall eine 10 geben.

Kent Nagano

Haben Sie im Januar geglaubt, dass sich das Selbstbewusstsein der Stadt bis Juli so stark verändern würde, wie es dann tatsächlich passierte?

Nagano: Ich hatte das gehofft. Es ist ein Teil dessen, was ich an Hamburgs Charakter schon so attraktiv fand, bevor ich hierherkam: dieser Mut, etwas wirklich zu tun. Ich hatte in den vergangenen Jahren das Privileg, bei den Eröffnungen von fünf Konzertgebäuden dabei zu sein. Ich habe also gesehen, was passieren kann. Und diese Veränderungen scheinen neue Perspektiven herauszubilden. Es ist hier eben nicht so, dass die „Neuigkeit“ nach sechs Monaten zu schwinden beginnt. Hamburg nimmt die Elbphilharmonie wirklich an, sie wird als ein Teil von „Hamburg 21“ betrachtet. Das gehört gefeiert.

Wie hat Sie der Große Saal bei Ihrer Arbeit als Dirigent positiv überrascht – und was war schlimmer als befürchtet?

Nagano: Am schönsten war, wie unmittelbar nah man sich dort dem Publikum fühlt. Das ist wunderbar. Schwierig ist: die moderne Akustik, die bei der Vermittlung von höchst effizienten Informationen sehr, sehr sensibel reagiert. Aber solche ­Informationen sind noch nicht Musik. Es dauert dann wirklich, die künstlerischen Reflexe darauf einzustellen, wie man bestimmt, was Dynamik ist und was Klang. Man muss alles neu denken. Und wir müssen die Unterschiede der Sitzplätze noch lernen, das kann sich fast von Sitz zu Sitz ändern.

Haben die drei Chefdirigenten – Hengelbrock, Tate und Sie – sich auf kurzen Dienstwegen kontaktiert, um zu berichten, wo was hakt oder was läuft?

Nagano: Leider nicht mit Herrn Tate, aber mit Herrn Hengelbrock haben wir regelmäßigen Kontakt gehabt. Und nicht nur mit ihm, wir haben auch viel mit den Musikerkollegen vom NDR über ihre Erfahrungen gesprochen. Bruckners Achte hatte eine wirklich steile Lernkurve. Dafür war ich viel öfter als sonst im Saal, um zu verstehen, wie es sich anhört.

Wäre es fair, den Großen Saal als Dirigenten-Killer zu bezeichnen, es gab ja Kollegen von Ihnen, die dort erstaunliche Probleme hatten?

Nagano: Er ist ein High-Performance-Instrument. Deswegen muss man diesem Saal mit viel Respekt begegnen und tunlichst sehr gut vorbereitet sein.

Die erste Saison war sehr speziell. Das Programm für 2017/18 sieht nach Grundlagenarbeit aus: Sie dirigieren Haydn, Brahms, Schubert, Bruckner, Schumann. Sehr klassische Basics. Ist das wegen des Orchesters so, wegen des Saals, wegen des Publikums?

Nagano: Das Publikum hier ist großartig, das ist also nicht der Grund. Für ein Orchester ist es sehr wichtig, eine fließende, aktuelle, aktive Beziehung zum klassischen Repertoire zu haben. Wenn man sich mit diesem Fundament nicht beschäftigt, fehlt etwas.

Aber diese Idee der Akademie – ein Komponist pro Konzertabend stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert. Wo bleibt da das programmatische Abenteuer?

Nagano: Genau das, was wir machen, ist das Abenteuer. Aber es ist natürlich noch mehr: Wir verstehen dies als ein ­Bekenntnis zu den Anfängen und zur Tradition unserer modernen Konzertkultur und zu den „großen“ Komponisten, deren Werke wir ja überhaupt zu danken haben, dass wir dieses Musik­leben haben, dem sich ja auch die Elbphilharmonie verdankt. Gemeinsam mit dem Orchester wollte ich mich wirklich tief auf diese Komponisten einlassen. Diese aktive Arbeit wird langfristig das Potenzial des Orchesters freisetzen. ­Natürlich ist es einfacher, ein bombastisches, funkelndes, aufsehenerregendes Programm zu bringen. Doch ich halte es für fraglich, ob das hilfreich beim langfristigen Qualitätsaufbau ist. Wenn ein Brahms oder ein Haydn in einem Saal wie der Elbphilharmonie nicht gut klingt, hat man grundsätzlich ein Pro­blem. Auf diese Auseinandersetzung in diesem Saal kommt es mir an.

Also: Bevor Brahms nicht klappt, darf man keinen Schreker spielen?

Nagano: Man darf alles spielen, aber es kommt auf die Zielsetzung an. Allen Potenzialen des Orchesters muss ihre Entwicklung erlaubt werden, das gesamte Ausdrucksvokabular, das Gefühl für die Harmonien, Klangfarben und Strukturen.

Wie beurteilen Sie nach der letzten Saison die Musikstadt-Gruppendynamik zwischen den drei großen Orchestern NDR, Philharmoniker und Symphoniker?

Nagano: Es ist schon etwas, dass eine Stadt wie Hamburg drei wichtige Klangkörper hat, jedes Orchester hat seine Rolle. Wir hatten versucht, für ein Wohltätigkeitskonzert mit dem NDR zusammenzuarbeiten, das hat noch nicht geklappt. Im ­Tagesgeschäft sind die Grenzen fließend – NDR-Mitglieder sind Aushilfen bei uns und umgekehrt. Zwischen uns ist es freundlich und respektvoll. Aber ich möchte doch auch in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Arbeit und dementsprechend auch die Funktion unseres Philharmonischen Staatsorchesters etwas anders aussehen, als dass wir die drei Hamburger Symphonieorchester einfach in eine Reihe stellen könnten.

Das Staatsorchester ist zu weit überwiegenden Teilen Opernorchester, das heißt, es steht in erster Linie den Aufführungen in der Staatsoper zur Verfügung. Diese Doppelrolle geht übrigens auch zurück auf das frühe 19. Jahrhundert, als sich die Musiker neben ihrem Theaterdienst auch für „reine“ Orchestermusik engagieren wollten, und dies deshalb, weil mit den Symphonien von Haydn, ­Mozart und vor allem von Beethoven dem Instrumentalkonzert immer mehr Bedeutung zugewachsen ist. Vor allem Bedeutung im Zusammenhang mit einem steigenden Interesse seitens des Publikums und der Öffentlichkeit.

Momentan gibt es wohl kein Kultur­gebäude auf der Welt, das mehr Aufmerksamkeit als die Elbphilharmonie erhält. Verstehen Sie, dass Thomas Hengelbrock seinen Posten als NDR-Chefdirigent verlässt?

Nagano: Ich hatte leider noch keine Gelegenheit, direkt mit ihm darüber zu sprechen.

Was glauben Sie, warum er 2019 gehen will?

Nagano: Wie lange ist er hier?

Seit 2011.

Nagano: Macht acht Jahre. Das ist eine Menge Zeit. Wenn man als Künstler fühlt, dass der Moment für etwas Neues gekommen ist, dann muss man eine Entscheidung treffen. Ich kenne ihn gut und bin sehr dankbar für das, was er Hamburg gegeben hat. Die Zukunft kommt, Veränderungen sind ­etwas Normales.

Was erwarten Sie von Hengelbrocks Nachfolger Alan Gilbert?

Nagano: Wir kennen uns nicht so gut.

Aber Sie kennen seinen Ruf.

Nagano: Als ich Chefdirigent beim DSO in Berlin war, habe ich ein Konzert von ihm ­gehört, das war sehr stark, ein Mahler-Konzert. Und er hat das New York Philharmonic sehr gut in einer Situation ­geleitet, die nicht einfach war. Ich freue mich sehr darauf zu erleben, was hier passieren wird.

Wird es dadurch für die Philharmoniker jetzt einfacher oder schwieriger, Top-Orchester in dieser Stadt zu sein?

Nagano: Kommt darauf an, wie die Parameter ­dafür sind. Mich interessieren Qualität, Tiefe und der langfristige Horizont. Es gibt Verlangen danach. Wir leben in einer so rasanten Zeit, alles soll so schnell sein, alles ist so digital – deswegen gibt es diese Sehnsucht nach etwas anderem. Und Kunst ist eine Geisteswissenschaft.

Ihren Vertrag mit dem OSM in Mont­real lassen Sie 2020 auslaufen. Möchten Sie dafür ein neues Orchester übernehmen, oder wollen Sie sich mehr auf Hamburg – auch hier endet Ihr derzeitiger Vertrag 2020 – konzentrieren?

Nagano: Der Abschied von Montreal ist für mich sehr emotional. Wir haben eine Spitzenposition erreicht, in jeder Hinsicht. Es gibt dort eine richtige Liebe. Dann freiwillig zu gehen ist nicht so einfach. Mein Gefühl ist, dass die Arbeit in Hamburg nicht ohne 100-prozentigen Einsatz getan werden kann.

Also kein neues Chef-Amt?

Nagano: Nein, es gibt dafür keine Pläne.

Deutlich näher als 2020 und Montreal ist das nächste Musikfest im Frühjahr 2018, von dessen Programm noch nicht alles ­bekannt ist. Wird das Ihr programmatischer Abenteuerspielplatz, als Kontrast zu den Abo-Konzerten?

Nagano: Nur zur Erklärung: Unsere Stückauswahl für die Konzertsaison war völlig freiwillig. Wir machen beim Musikfest ein spezielles Hamburger Programm, das sich sehr auf die Stadt im 21. Jahrhundert bezieht, verbunden mit der langen Historie. Es gab lange Diskussionen bei uns, ob wir wieder in St. Michaelis spielen oder in der Elbphilharmonie. Am Ende haben wir uns, ausschließlich aus künstlerischen Gründen, für die Elbphilharmonie entschieden. Weil es dort besser klingen wird, was wir spielen wollen.

Das NDR-Orchester ist im CD-Bereich ­gerade aktiv. Gibt es auch bei Ihnen Pläne für Einspielungen?

Nagano: Die Zahlen in diesem Markt sind sehr decrescendo. Ich stelle immer die Frage: Warum sollen wir das tun, haben wir etwas zu sagen? Direkt zu Ihrer Frage: Ja, wir produzieren CDs. Wir nehmen Stücke auf, dann werden wir diskutieren, ob es wirklich repräsentativ für unsere künstlerischen Visionen ist.

Den oder die Komponisten haben Sie noch nicht genannt.

Nagano: Wenn ich das sage, und es kommt nicht dazu, haben wir ein Problem.

Werden Sie in der Elbphilharmonie aufnehmen oder in der Laeiszhalle? Diese Ortswahl wäre ja auch ein künstlerisches Statement.

Nagano: Es wird immer live sein, und wir müssen aus praktischen Gründen in die Elbphilharmonie. Wenn alles gut geht, kommen die ersten CDs etwa Anfang 2018.

Geben wir dieser Konzertsaison also den Titel „Zurück zu den Anfängen“ …

Nagano: … Uhh ... Bedenken Sie, es gab in unserer Musikgeschichte mehrfach und immer wieder eine Zurückbesinnung, ein ­Zurückgehen zu den Wurzeln von Entwicklung. Aber dabei wichtig ist nicht das Zurückgehen, wichtig ist immer, welche neuen Möglichkeiten und Per­spektiven wir ­daraus schlagen! Welche Zukunft wir daraus entwickeln!

Welchen Titel würden Sie also wählen?

Nagano: Ich würde sagen: Hamburgs musikalische Tradition im 21. Jahrhundert.

Werde ich in der Saison 2018/19 erleben, dass Sie das NDR-Orchester dirigieren und Thomas Hengelbrock die Philharmoniker?

Nagano: Wir haben wirklich versucht, das für ihn zu arrangieren. Aus Termingründen hat das nicht geklappt. Aber die Tür ist ­immer offen.

Konzerte: 1.10. 11 Uhr, Laeiszhalle, Kl. Saal „50 Jahre Philharmonisches Kammerkonzert“ mit Kent Nagano und einem Überraschungsprogramm/8.10, 11 Uhr, Elbphilharmonie,
Gr. Saal: 1. Philharmonisches Konzert mit Haydns „Jahreszeiten“ (ausverkauft).


Staatsopern-Premiere: „Parsifal“, 16.9.,
16 Uhr, weitere Termine: 16./24./27./30.9., 3.10. Karten unter T. 35 68 68.

Podiumsgespräch: 5.10., 20 Uhr, Salon­festival-Gespräch von Kent Nagano mit Ko­autorin Inge Kloepfer über ihr Buch „Erwarten Sie Wunder!“ und die Bedeutung klassischer Musik. Hotel Vier Jahreszeiten. Karten
(18 Euro) und Infos: www.salonfestival.de