Hamburg. Der gebürtige Hamburger Elias Perrig inszeniert George Orwells Roman „1984“ – mit hochaktuellen Bezügen.
„Leben spielen!“, lautet das Motto des Ernst Deutsch Theaters für die Saison 2017/2018. Und weil sowohl das Bühnenleben als auch das Private oft politischer sind als gedacht, hat Intendantin Isabella Vértes-Schütter, im Nebenberuf SPD-Bürgerschaftsabgeordnete, mit „1984“ zum Auftakt ein Thema auf den Spielplan gesetzt, das Synonym ist für staatliche Überwachung und aktueller denn je. Mit der Inszenierung der deutschen Bühnenfassung von George Orwells Roman hat die Chefin Elias Perrig betraut.
Der Schweizer arbeitet seit fast 25 Jahren als Regisseur, war fest am Staatstheater Kassel, Staatstheater Stuttgart und sechs Jahre lang Schauspieldirektor am Theater Basel. In seiner Geburtsstadt Hamburg, die Perrig als Zwölfjähriger mit seinen Eltern verließ, inszeniert der Wahlberliner indes zum ersten Mal. Premiere ist am Donnerstag. Um sich in der Stadt zurechtzufinden, nutzt er statt eines Falk-Plans jetzt Google Maps, verrät er beim Gespräch im Theater-Foyer – womit wir schon fast beim Thema Überwachung wären. Google wisse genau, wann er sich wo aufhalte, sagt der 52-Jährige, der einen wissenschaftlichen Hintergrund hat: Er studierte bis 1987 in Basel Molekularbiologie, bis zum Vordiplom.
Wie stark wären Sie als Biochemiker heute mit Manipulation und Überwachung konfrontiert?
Elias Perrig: Mit Manipulation ganz stark, nur auf eine andere Weise: Genmanipulation ist ein brisantes Thema. Und eines, bei dem ich moralische Bedenken bekam. Wenn ich das weiterstudiert hätte, wäre ein großes Anliegen gewesen, Normen zu entwickeln, wie weit Forschung gehen darf. Andererseits kann dies Theater ja auch: Es bietet handfest die Möglichkeit, die Welt zu retten – immer mal wieder (lacht).
Haben Sie gezögert, „1984“ zu machen – der Roman erzählt ein komplexes Thema?
Perrig: Das hat mich nicht abgeschreckt, im Gegenteil: „1984“ ist das Stück der Stunde. Ich hatte den Roman in der Schulzeit gelesen und hatte die Erinnerung mit dem Stichwort „Big Brother“ und der Dystopie über einen Überwachungsstaat. Als die Anfrage kam, habe ich den Roman noch mal gelesen und war hin und weg, weil sich für mich das Thema eigentlich etwas verschoben hat.
Inwiefern?
Perrig: Über sehr weite Strecken – und das finde ich fast wesentlicher als die Überwachung – geht es um die Veränderung von Wahrheit. Das ganze Thema von Fake News und „alternativen Fakten“, wie manipuliert man Fakten, wie kann man ein Volk manipulieren, indem man Geschichte verfälscht – das wird in dem Roman derart präzise abgehandelt, daran konnte ich mich so gar nicht mehr erinnern. Nun dachte ich: Das ist ja so, als hätte Orwell das jüngst geschrieben als Parabel auf das, was gerade passiert in Amerika und anderswo.
Das Buch von 1949 stand nach Trumps Vereidigung als Präsident an der Spitze der Bestsellerlisten, auch in den USA!
Perrig: Es hat damit zu tun, dass es auf präzise Weise einen Staat beschreibt, der auf zynischste Weise seine Wähler manipuliert und sie mit falschen Fakten konfrontiert: Egal was wir sagen, es ist die Wahrheit. Da ist der Roman sehr heutig.
In Deutschland ist Videoüberwachung längst gang und gäbe. Jetzt gibt es am Bahnhof Berlin-Südkreuz ein Pilotprojekt zur Infrarot-Gesichtserkennung. Eine weitere Parallele zu Orwell?
Perrig: Auf jeden Fall. „1984“ ist weiterhin ein Stück zur Überwachung. Auch darin ist es unglaublich zeitgemäß. Das hat mich schon nach dem NSA-Skandal beunruhigt, dass die Reaktion der Menschen war: Das stört mich nicht weiter, ich hab ja nichts zu verbergen, und Hauptsache, die Bösen werden gefangen. Genau dieses Argument taucht bei Orwell auf und rechtfertigt im Grunde alles. Bei ihm ist es immer der Krieg, der Feind, der Untergrund und der äußere Feind. Das ist genau das, was heute mit Terrorismus passiert. Ich behaupte, man hat Interesse, dass die Leute Angst haben, weil man so auch Infrarot-Gesichtserkennung begründen kann.
Hat die Realität Orwells Dystopie also bereits überholt?
Perrig: Weiß ich nicht. Ich war aber verblüfft, wie visionär er war. Natürlich hat er das technisch etwas anders beschrieben, wie die Überwachung funktioniert. Das Wesentliche aber ist, dass sie stattfindet: Der Bürger ist wieder gläsern, der Staat darf wieder heimlichtun. Eigentlich haben wir damit die Zeit zurückgedreht. Die große Errungenschaft der Französischen Revolution war das Briefgeheimnis – das gibt es nicht mehr.
Die große Mehrheit der Menschen geht damit doch ohnehin ungeheuer nachlässig um – vor allem bei Facebook und Instagram – bis hin zur völligen Preisgabe der Privatsphäre ...
Perrig: Das erschreckt mich auch immer – an mir selber übrigens auch –, weil man bereit ist, alles preiszugeben, einerseits unter dem Vorwand der Sicherheit, das ist ja immer das Hauptargument. Und – damit hätte ich vor 20 Jahren nicht gerechnet – aus Gründen der Bequemlichkeit. In diesem Sinne war das iPhone die gefährlichste Erfindung des vergangenen Jahrzehnts.
Und wie stellen Sie mit der Bühnenfassung von „1984“ Bezüge zur Gegenwart her?
Perrig: Das Stück hat eine Rahmenhandlung, die einen Bezug ins Heute schlägt, wie eine Meta-Ebene, auf der Leute über den Roman reden. Damit ist es fast eine Parodie, als ob man sagt: „Es ist ganz furchtbar mit dem NSA-Skandal. Und was der Orwell da beschreibt, ist ganz schlimm.“ Gleichzeitig tut man nichts dagegen. Es hat viel mit der Gedankenwelt zu tun, die sich auf der Bühne zeigt. Das ist zumindest unser Versuch.
„1984“ Premiere Do 31.8., 19.30, bis 30.9., Ernst Deutsch Theater (U Mundsburg), Friedrich-Schütter-Platz 1, Karten zu 22,- bis 42,-: T. 22 70 14 20; ernst-deutsch-theater.de