Hamburg. Wolf-Dietrich Sprenger holt den Jugendbuchklassiker „Die Welle“ am Ernst Deutsch Theater in die Gegenwart

Eine tolle Schulklasse. Ein Chaotenhaufen, das schon, aber ansonsten herzlich, selbstironisch, kreativ. Sicher, der dauerverpennte Robert (Rune Jürgensen) muss einiges einstecken, Musterschülerin Emily (Emily Marie Seidel) hat es nicht leicht, und der russischstämmige Anton (Anton Faber) wird wegen seines Akzents verspottet, aber alles in allem halten sich die Teenager-Grausamkeiten in Grenzen. Selbst Softielehrer Ben Ross (Jonas Minthe) wird von diesen Herzchen zwar nicht ernst genommen, aber irgendwie mögen sie ihn doch.

Disziplin und Gemeinschaft: Die Schüler finden’s super

Allerdings sollten sie ihn nicht nur mögen, sie sollten auch was lernen. Und zumindest in Geschichte lernen sie konsequent nichts. „Och nee, nicht schon wieder Hitler“, stöhnen sie, als Ross ihnen die Faszination des Faschismus zu erklären versucht. „Was geht uns dieser alte Sack an?“ Um diese Frage zu beantworten, organisiert Ross eine faschistische Minibewegung in der Klasse, ohne ideologischen Überbau, aber mit Prinzipien wie Disziplin und Gemeinschaftsgefühl. Überraschung: Die Schüler finden’s super. Und Ross leider zunehmend auch …

Morton Rhues Roman „Die Welle“ beruht auf einem gescheiterten Unterrichtsexperiment 1967 an einer kalifornischen Highschool. Der 1981 erschienene Roman ist längst ein Jugendbuchklassiker, mehrfach verfilmt und fürs Theater adaptiert. Wolf-Dietrich Sprenger hat dennoch eine neue Bühnenfassung erstellt, die die Handlung aus den USA in die Bundesrepublik verlegt und aus den 1960ern in die Gegenwart. Was zur Folge hat, dass Sprengers Inszenierung am Ernst Deutsch Theater politisch eindeutiger daherkommt als in der Vorlage – ging es bei Rhue noch darum, dass man Menschen problemlos manipulieren kann, wenn man ihnen das Gefühl gibt, einer größeren Sache zu dienen, ohne diese Sache genauer zu beschreiben, ist „Die Welle“ bei Sprenger eine eindeutig rechte Bewegung. Die Frisuren der Anführer werden von Szene zu Szene strenger gescheitelt, die Aggressionen richten sich schnell gegen den dunkelhäutigen Schüler Gambali (Gambali Rabiou). Und als Ross immer mehr in die Führerposition gedrängt wird, grenzt er sich selbst nach Rechtsaußen ab: „Ich bin ja nicht Höcke oder Gauland.“ Das Publikum hat hier allerdings längst verstanden: Doch, genau so jemand ist er. Ein Menschenmanipulator, der sich auch in leitender Position bei der AfD gut machen würde.

Sprenger bezieht Haltung mit seiner Inszenierung. Allerdings nimmt er Rhues Geschichte eines gescheiterten Experiments auch ihre Sprengkraft, indem er aus einer Bewegung, die sich gegen Individualismus ausspricht, eine Gruppe mehr oder weniger tumber Rechter macht. Zumal die Erwachsenen hier nicht höckegleich daherkommen: Tatsächlich fallen die Darsteller der Lehrerschaft, neben Minthe auch Sina-Maria Gerhardt als Ross’ Frau und Günter Schaupp als Schuldirektor, massiv ab gegen die Schülerdarsteller, die Sprenger weitgehend aus den Jugendclubs des Theaters rekrutierte. Anders gesagt: So stark wie die Jugendlichen hier eine Klasse darstellen, die sich in einem fatalen Gemeinschaftsgefühl verstrickt, so blass bleiben ihre Erzieher. Minthe behauptet, dass Ross sich in der Rolle als Führer gefallen würde, bloß glaubt man es ihm nicht. Schaupp behauptet, dass der Direktor ein Ignorant sei, der sich nicht einmal den Namen Gambali merken könne, dazu passt aber nicht, dass er in der nächsten Szene hellsichtig die Gefahren der „Welle“ erkennt.

Regisseur zeigt Polemik gegen AfD und Pegida

Erst zum Ende hin findet Sprengers Inszenierung wieder zurück in die Vielschichtigkeit ihrer Anlage. „Die Welle“ ist aufgelöst, die Gefahr gebannt, Anton und Gambali schauen gemeinsam Chaplins „Der große Diktator“. In dessen Schlussszene hält Chaplins Charakter eine flammende Rede für Menschlichkeit und Demokratie, und die Massen jubeln ihm zu. Und nach und nach erkennt er: Die jubeln gerade genauso, wie sie zuvor den Faschisten zugejubelt haben. Die Panik, die sich in diesem Moment in Chaplins Blick spiegelt, ist das, was „Die Welle“ so erschreckend macht. Eine Panik, die in Sprengers ehrenwerter Polemik gegen AfD und Pegida viel zu selten zu erkennen ist.

„Die Welle“ bis 9.7., Ernst Deutsch Theater, Friedrich-Schütter-Platz 1, Karten unter
T. 22 70 14 20