Hamburg. In der Elbphilharmonie brillieren die Tindersticks, auf Kampnagel begeistert der argentinische Theatermacher Mariano Pensotti.

Dass das Sommerfestival ein Abenteuerspielplatz ist und als denkbar offene Veranstaltung gelten kann, ist eh klar. Jahr für Jahr holt Kampnagel aufregende Künstler nach Hamburg, überraschende Konzepte und Zugänge inbegriffen. Die honorige Kammerpop-Band Tindersticks ist, was das angeht, ein geradezu idealtypischer Programmpunkt der diesjährigen Ausgabe: In der Elbphilharmonie stellte sie ihr neuestes musikalisches Projekt „Minute Bodies: The Intimate World Of F. Percy Smith“ vor – und damit die mutmaßlich erste Sinfonie für das Forscherlabor.

F. Percy Smith (1880–1945) gilt als Filmpionier, der mit Mikrofilm-Techniken die Vorgänge in der Natur aufnahm. 1910 wurde sein Film „Die Geburt einer Blume“ zu einer kleinen ­Sensation. Beim Konzert in der Elbphilharmonie flimmern die mikroskopisch herangezoomten Naturvorgänge über eine riesige Leinwand, während die Tindersticks ihre 55 Minuten lange Komposition zu Ehren F. Percy Smiths live darbieten – eine zwischen Klassik und Ambient changierende Soundcollage, die zwar einige in sich abgeschlossene Strukturen haben mag, aber keinen Song-Charakter. Die meisten der Arrangements, die im Juni als Album erschienen sind, wurden von Tinder­sticks-Chef Stuart Staples und der französischen Pianistin Christine Ott geschrieben.

Band sitzt im Dunkeln unter der Leinwand

Sie sind der fiepende, scheppernde, aufwallende, abflachende, mal laute, mal zärtliche Soundtrack zum Wunder der Natur. „Minute Bodies“, jene Schwarz,Weiß-Ode an schwimmende Zellen und keimende Pflanzen, ist nicht nur auf DVD, sondern auch live eine faszinierende Angelegenheit – und der Beweis, dass die Tindersticks auch ohne Staples’ charakteristischen Bariton ihre hypnotische Wirkung entfalten. Die Band – mit Streichinstrumenten Klassik-Konzerthaus-gerecht aufgepimpt – sitzt im Dunkeln unter der Leinwand. Die Lampe, die jeder Musiker an seinem Arbeitsplatz bei Bedarf anmacht, leuchtet matt – wie die Funzel der frühen Wissenschaft.

Im zweiten Teil dieses herausragenden Konzertabends bieten die Tindersticks dann Songs aus ihrem 13 reguläre Alben umfassenden Werk: „A Night So Still“, „My Oblivion“, „Medicine“ – Epen von der Nachtseite der Popmusik, im Großen Saal dunkel schimmernd in ihrer ganzen Pracht.

Die Tindersticks: Stuart Staples sang
erst im zweiten Teil
Die Tindersticks: Stuart Staples sang erst im zweiten Teil © HA | Claudia Höhne

Von der Elbphilharmonie in die Sommerfestival-Zentrale: Dort bespielt zeitgleich ein Südamerikaner mit Puppen die große Bühne. Puppen sind in diesem Jahr gern gesehene Sommergäste auf Kampnagel. Die Marionetten, die da in „Loderndes Leuchten in den Wäldern der Nacht“ auf der Bühne stehen, verzaubern das Publikum sofort. Auch weil sie die gleichen Frisuren und Kleider tragen wie ihre Puppenspieler. Sie sind die Stars der ersten von drei Geschichten, die der argentinische Theatermacher Mariano Pensotti erzählt und die es in sich haben.

Da ist die Wissenschaftlerin, die zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution eine Rede über die sowjetische Feministin Alexandra Kollontai halten möchte, aber mit dem Kontrast von Forschungsobjekt und der Biederkeit des eigenen Lebens ringt. Dass ihr Gatte eine junge Geliebte schwängert, macht es nicht besser. Der fantasiebegabte Pensotti lässt Miniaturrequisiten von links und rechts auf die leere Bühne schieben und wieder verschwinden.

Ausbeutungsverhältnisse sind hier umgekehrt

Im zweiten Teil wechseln die Marionettenspieler über zum reinen Schauspiel. Eine verstörte Guerilla-Kämpferin kehrt aus Kolumbien zurück und erfährt, dass die eigene Sippe ihr revolutionäres Leben hübsch vermarkten will. Am besten als Musical. Das Harmonium steht schon bereit. Irgendwann gehen die Spieler ins Kino und sehen einen Film, und da ist der Zuschauer auch schon mittendrin in der letzten der drei Frauengeschichten.

Die ist nicht ohne. Eine TV-Journalistin reist mit zwei Freundinnen in den Norden, wo Nachfahren von Anfang des 20. Jahrhunderts emigrierten Russen sich als Callboys verdingen. Die üblichen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse sind hier umgekehrt. Die gut verdienende Medienfrau bestellt sich den Lustknaben aufs Hotelzimmer. Natürlich gerät sie dabei an den Falschen. Und entdeckt durch Zufall versklavte Fabrikarbeiterinnen beim Fertigen von Matroschka-Puppen. Pensotti, seit jeher ein Theatermacher mit starkem politischen Interesse, entpuppt sich als Feminist, der seine originellen Erzählungen der drei emanzipierten Frauen in unterschiedlichen Erzählformen verschränkt.

Das Marionettenspiel geht geschmeidig in ein Stück im Stück über, weiter in den Film – und zurück. Der Regisseur, studiert in Film, bildender Kunst und Theater, kann dabei auf ein hoch motiviertes fünfköpfiges Ensemble bauen, das mühelos durch die Ebenen und Erzählungen gleitet und am Schluss noch zu Selbstironie fähig ist. Überhaupt wäre das ganze Gerede von Revolution, Ohnmacht, Ausbeutung ohne den expliziten Humor kaum zu ertragen. So aber holte sich das Team am Ende verdiente Bravos ab.

Internationales Sommerfestival bis 27.8., Kampnagel, Jarrestraße 20–24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de