Hamburg . Auf Kampnagel gab es einen beglückenden Beckett-Abend und ein munteres Figurenmusical beim Internationalen Sommerfestival.
Manchmal muss man sich die Früchte des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel regelrecht erarbeiten. Und zum Beispiel die Treppen eines achteinhalb Meter hohen mit Tuch verhüllten Stahlturmes in der Vorhalle erklimmen. Auf drei verschiedenen Ebenen werden die Zuschauer einzeln vor einem Schlitz im Stoff platziert, durch den sie ihre Köpfe stecken.
Im besten Fall werden 80 Köpfe Teil des Bühnenbildes und blicken auf das Geschehen im Innern. Theater als etwas andere Peepshow. In dem weißen Rund geht „Endgame“ von Samuel Beckett über die Bühne. Tania Bruguera, bildende Künstlerin aus Kuba, hat sich diesen Zugriff für ihre erste, vielerorts gefeierte Theaterarbeit ausgedacht.
Bemerkenswerte Bühnensetzung
Die Bühneninstallation erweist sich als bezwingend, lässt sie doch das Herr-Knecht-Verhältnis zwischen dem blinden und gelähmten Hamm und seinem hinkenden, steifen Diener Clov noch schärfer hervortreten. Ihre Abhängigkeit ist beidseitig, ohne Clov würde Hamm verhungern, aber auch Clov käme ohne Hamm nicht weit, der die Herrschaft über die Lebensmittel besitzt. Die beinlosen, verunfallten Eltern, hier von Kinderdarstellern gespielt, melden sich nur gelegentlich aus ihren Schlafmülltonnen zu Wort.
Machtbeziehungen, so die These Brugueras, hängen von der Dominanz des einen und der Unterwerfung des anderen ab. Und da wird Clov langsam aufmüpfig, fuhrwerkt ungeschickt mit seinen Werkzeugen, erklettert mal links, mal rechts von Hamm den Turm, um ihm von der Außenwelt zu erzählen, verweigert die Medizin. Abgesehen von der bemerkenswerten Bühnensetzung spult sich das Beckett-Geschehen geradlinig und textgetreu ab, was an dieser Stelle überrascht, aber funktioniert.
Geballte Ernsthaftigkeit
Der New Yorker Darsteller Brian Mendes ist als herrschsüchtiger, bitterer Hamm liegend und hinter seiner Sonnenbrille sehens- und hörenswert. Jess Barbagallo gibt dem aufbegehrenden Clov einen ruppigen Arbeitercharme. Das Publikum lässt sich faszinieren und honoriert diese originelle Metapher auf totalitäre Beziehungen mit Bravos.
Auf die geballte Ernsthaftigkeit folgt Frohsinn mit viel Musik. Der Kanadier Socalled und Funk-Legende Fred Wesley lassen die Puppen tanzen in der Weltpremiere von „The 2nd Season“ und fahren dazu das ganz große Besteck auf. Auf einer zweigeteilten Bühne werfen die Musiker, Socalled am Piano, ein Schlagwerktrio, das Hamburger Kaiser Quartett und Sängerinnen und Sänger die Musical-Maschine an. Ouvertüre. Chöre. Videoprojektion samt Sternenhimmel. Singende Baumstümpfe.
Bezaubernde Eingangsszene
In einer bezaubernden Eingangsszene trifft der linguistisch gebildete Biber im Wald auf Ente und Kröte. Und er begegnet Tammy, die der Liebe von Bibers Freund Bär und dem außerirdischen Fuzzy-Wesen Tina entsprang. Biber versteht ihre Sprache und hilft natürlich bereitwillig bei der Vatersuche. Der Weg führt in eine Posaunenfabrik, in der Bär und andere Waldbewohner anheuern.
Den Akkord aus immer mehr Hochglanzinstrumenten in immer kürzerer Zeit erfüllen sie nur im von garstigen Vorgesetzten verabreichten Honigrausch. Der Spätkapitalismus lässt grüßen. Bis das alles ein gutes Ende findet, schaut der Zuschauer den drei Puppenspielerinnen bei ihrem rasanten Bühnenballett zu.
Gesellschaftskritischer Subtext
Zu den schönsten Szenen gehört, wie der vor der Fabrik abgewiesene Biber sich mit aufgesetzten Bärenohren doch noch Zutritt verschafft. Der Abend verschleiert nicht um der perfekten Illusion willen die Mühen seines Entstehens. Die Musik fetzt angemessen soulig. Ein Song wie „Money In the Honey“ lässt angesichts der gezogenen Verbindung aus Gier und Geld tief blicken. Fred Wesley, Posaune spielende Legende der James-Brown-Ära, beherrscht sein Instrument am Schreibtisch sitzend noch immer tadellos. Da macht es nichts, dass der 74-Jährige auf der Suche nach dem gerade entfallenen Rollentext einfach mal „Dabdabdidu“ macht.
Die Handlung beinhaltet durchaus einen gesellschaftskritischen Subtext, aber wer den Dialogen mangels Übertitel nicht folgen kann, kommt trotzdem nicht ins Schwitzen. Über die Flauschdarsteller transportiert sich das Geschehen wie von allein. Die opulenten Videoprojektionen und die Tanzeinlagen von Jessica Nupen und Marcelo Dono unter Bär- und Tina-Maskierungen liefern zusätzliche Ebenen. Die Video-Ebene ist am Ende vielleicht eine zu viel.
Der Kontrast zum späten Beach-House-Konzert im Club könnte kaum größer sein. Aber das ist ja das Schöne beim Sommerfestival, alles findet hier seinen Platz: Klassiker und Neuschöpfung, Erwachsene und Kinder und sogar Musical und betörender Dream-Pop.
Internationales Sommerfestival bis 27.8., Kampnagel, Jarrestraße 20 – 24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de