Hamburg. Die Vorschau für die nächsten Monate: Uwe Timm und Ulla Hahn, das Harbour Front Festival und Lesungen im Literaturhaus.

Den spektakulärsten Termin hat die Literatur aus Hamburger Perspektive in diesem Jahr am 15. Oktober: Da lesen im weltwichtigsten Konzerthaus Joachim Meyerhoff, John le Carré und Salman Rushdie – und zwar hintereinanderweg. Ob die Elbphilharmonie so viel Wort-Power aushält? Es ist davon auszugehen. Und man darf ­gespannt sein, ob die berüchtigte Akustik des Großen Saals, die keinen Fehler verzeiht, in Sachen Schreibstil genauso unbarmherzig ist wie bei der Musik.

„Das
Original“
nur von
John
Grisham
„Das Original“ nur von John Grisham © Heyne

Der Elbphilharmonie-Dreier ist zugleich der Höhepunkt des neunten Harbour Front Festivals (13. September bis 15. Oktober), das in diesem Jahr einen türkischen Schwerpunkt hat. Der kommerziell größte Name auf dem Harbour-Front-Lesekalender ist übrigens Ken Follett (Lesung am 14.11./Laeiszhalle), dessen Roman „Das Fundemant der Ewigkeit“ im Herbst erscheint. Bereits am 21. August ist John Grishams „Das Original“ zu haben. Originellerweise wird Auflagenkönig Grisham sicher wieder sein bewährtes Spannungsrezept anwenden – mit allen Ingredienzen aus der Ermittler- und Anwaltswelt, die ein Thriller eben so braucht.

Stichwort Bestseller: Die dritte Lieferung von Elena Ferrantes frauenbewegter Neapel-Saga trägt den Titel „Die Geschichte der getrennten Wege“ und liegt Ende August vor. Endlich wieder Binge-Reading, Freundinnen des literarischen Worts! Exzessives Lesen, ist das eigentlich grundsätzlich angesagt in den kommenden Monaten? Kommt drauf an, was man halt so mag. Sven Regener, die Schnodderschnauze aus Berlin, hat sich wieder ins Herr-Lehmann-Universum begeben und reist tief in die 80er-Jahre, die Zeit also, in der Kreuzberg noch wirklich spannend gewesen sein soll. Regener liest wie auch Uwe Timm demnächst in Hamburg, wobei Letzterer thematisch in ganz anderen Gefilden unterwegs ist. In seinem geschichtsschweren Roman „Ikarien“ (Veröffentlichung: 7.9.) erzählt Timm vom Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit, von Besiegten und Besatzern und ­warum aus idealistischen Utopisten menschenmordende Rassenhygieniker wurden. Ein wichtiges Buch, vor dessen Thema – der deutschen Schande – man dann doch noch mal verstummt, man hat sich ja fast abgewöhnt, das vergangene Dusterdeutschland zu beleuchten.

Uwe Timms
Roman „Ikarien“
spielt in der
Nachkriegszeit
Uwe Timms Roman „Ikarien“ spielt in der Nachkriegszeit © Kiepenheuer & Witsch

Apropos Hamburg: Timm, 1940 hier geboren, ist der Elder Statesman der mit der Hansestadt assoziierten Autoren. Sein weibliches Pendant ist Ulla Hahn, die noch im Spätsommer die vierte Lieferung ihrer autobiografisch inspirierten Hilla-Palm-Sage vorlegt. In „Wir werden erwartet“ geht es um die kleine, große deutsche Kulturrevolution, die roten 70er und Hillas Ankunft in Hamburg (Lesung am 7.9. im Literaturhaus). Zu den Timm- und Hahn-Titeln gesellen sich weitere Hamburgensien:Katrin Seddigs Roman „Das Dorf“ (18.8.) und „Mit der Flut“ (2.10.), das Debüt von Agnes Krup, einer seit 20 Jahren in New York City lebenden Finkenwerderin. Ein Memoire der besonderen Art ist Elena Lappins „In welcher Sprache träume ich?“ (7.9.), in dem die Engländerin, Maxim Billers Schwester, von den Sprachen erzählt, in denen sie lebte: Geboren wurde sie in Prag, über Moskau, Hamburg, Nordamerika und Israel kam sie nach London.

Der deutsche Buchmarkt ist traditionell offen für Bücher, die zuerst in einer anderen Sprache erschienen. Neben den üblichen und meistens guten Amerikanern – Anfang September erscheint etwa mit „Nichts als die Nacht“ das letzte Buch von „Stoner“-Autor John Williams– steht 2017 Frankreich, das Gastland der Frankfurter Buchmesse, im Mittelpunkt des Interesses. Die Bücher erscheinen dutzendweise, es ist ein Fest für Frankophile.

Einer der dicksten Fische im Literaturteich ist Leila Slimanis „Dann schlaf auch du“ (erscheint Ende August). Der Roman wurde vergangenes Jahr mit dem Prix Goncourt, dem höchsten Literaturpreis jenseits des Rheins, ausgezeichnet. Dem Buch war das beschieden, was jedem Buch zu wünschen ist: Es wurde zum eifrig besprochenen Gesprächsthema. Ein Elternpaar holt sich eine Nanny ins Haus, aber kann man einem fremden Menschen eigentlich vertrauen? Das sind Fragen, die jeden in der gehobenen Mittelschicht angehen.

Die französische Wahlberlinerin Marie
Ndiaye schrieb einen Kulinarikroman
Die französische Wahlberlinerin Marie Ndiaye schrieb einen Kulinarikroman © picture alliance

Von der Wahlberlinerin Marie Ndiaye, ebenfalls Prix-Goncourt-Trägerin, gibt es ebenfalls Nachschub. „Die Chefin. Roman einer Köchin“ verspricht, der kulinarischste Titel der Saison zu werden. Weitere internationale Größen der Literatur-Spätsaison sind die Britin Zadie Smith (ihr Freundinnen-Roman „Swing Time“ erscheint am 17.8.) und Colson Whitehead, dessen exzellenter, von der Sklaverei handelnder Roman „Underground Railroad“ (21.8., Lesung am 25.10. im Rolf-Liebermann-Studio) die seltene Ehre zuteil wurde, sowohl mit dem Pulitzer-Preis als auch dem National Book Award ausgezeichnet zu werden.

Nobelpreisträger Orhan Pamuks Roman „Die rothaarige Frau“ (25.9.) könnte ein kultureller Beitrag der Türkei zur Völkerverständigung sein. Unser neugieriger Blick geht aber noch interessierter in Richtung der SchwedinLinda Boström, deren autobiografisch inspiriertes Buch „Willkommen in Amerika“ soeben erschienen ist. Der Blick aufs eigene Leben scheint in der Familie zu liegen: Boström ist die inzwischen von ihrem Mann getrennt lebende Gattin Karl Ove Knausgårds und deswegen eine Figur der Weltliteratur. In Knausgårds „Min kamp“-Zyklus ist sie allgegenwärtig.

Es warten auf uns ein neuer Roman des englischen Upperclass-Vernichters Edward St Aubyn („Dunbar und seine Töchter“, 30.10.) und die Lebenserinnerungen des großen ungarischen Autors Péter Nádas („Aufleuchtende Details“, 1296 Seiten, 22.9.). Nádas liest übrigens ebenso auf Einladung des Literaturhauses in Hamburg wie die Inderin Arun­dhati Roy, die am 8. September im Magazin-Kino ihren neuen Roman „Das Ministerium des äußersten Glücks“ vorstellt. Es ist erst ihr zweiter, er erscheint 20 Jahre nach Roys Weltbestseller „Der Gott der kleinen Dinge“. Die Frau hatte es nicht eilig.

Wobei in der Literatur nicht selten lange gebrütet wird. Der immer zu Recht sehr gelobte Ost-Autor Ingo Schulzehat sich knapp ein Jahrzehnt Zeit gelassen für seinen deutsch-deutschen Schelmenroman, in dem ein Waisenkind noch zu DDR-Zeiten zum Millionär wird. Ob wir von Schulze etwas über den Kapitalismus lernen können? Er liest am 12.9. im Literaturhaus. BestsellerautorDaniel Kehlmann blickt nicht auf den Schelm, sondern den Narr: Sein „Tyll“ (11.10.) ist dem 17. Jahrhundert und seinem berühmten Sohn Till Eulenspiegel gewidmet. Thomas Lehr verbleibt in seinem großen Roman „Schlafende Sonne“ (21.8., ­Lesung am 27.9. im Literaturhaus) dagegen ganz im Jahr 2011.

Apropos deutsche Gegenwartsliteratur: Am 30.8. unternehmen die ­Moderatoren Rainer Moritz und Annemarie Stoltenberg den rekordverdächtigen Versuch, in der Freien Akademie der Künste die 20 Longlist-Autoren des Deutschen Buchpreises an einem einzigen Lese-Abend unterzubringen.

Der Nordfriese Jochen Missfeldt, Verfasser einer lesenswerten Storm-Biografie, macht es eine Nummer kleiner: In „Sturm und Stille“ erzählt er die Liebesgeschichte von Theodor Storm und Doris Jensen. Und auf der Langen Nacht der Literatur, mit der die Saison inoffiziell eingeläutet wird, stellt Missfeldt sein historisches Stück in Hamburg vor. Bleibt die Frage nach dem besten Romantitel des Herbstprogramms: „Bekenntnisse eines sehr schlechten Liebhabers“ von Moritz di Lorenzo (6.9.). Oder doch eher Oskar Roehlers „Selbstverfickung“ (8.9.)?