Ferienwochen sind immer auch Lesewochen. Im Flieger, am Strand, auf dem Hotelbalkon oder der Bungalowterrasse bei untergehender Sonne.
Im Flugzeug
„Wittgenstein und Heidegger: Die letzten Philosophen“ (26,95 Euro): Über den Wolken ist es noch höher als im Elfenbeinturm, warum also nicht zum neuen Buch Manfred Geiers greifen. Der Hamburger schreibt so unterhaltsam und kenntnisreich über Philosophie, dass man nie in geistige Turbulenzen gerät. Die Antipoden Wittgenstein und Heidegger werden hier in Leben und Werk greifbar. (tha)
„Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“ (20 Euro): Deutsche, Russen, Deutschrussen, Berlin, Moskau und die Suche nach Identität – in Kat Kaufmanns abgedrehtem und sprachlich eher krassem als gediegenem zweiten Roman sind die Themen fast die gleichen wie im furiosen Debüt. Es geht wieder viel ums Unterwegssein, um den multikulturellen Transit. Ankommen können wir später. (tha)
„Nichts bleibt“ (17 Euro): Willi Achten erzählt die Geschichte des mehrfach ausgezeichneten Kriegsfotografen Franz Mathys, der genug gesehen hat vom Leid auf dieser Welt. Srebrenica ist solch ein Ort. Mathys will nicht mehr, Vorwürfe macht er sich, weil er vom Tod profitiert hat. Er zieht sich auf einen einsamen Hof zurück, lebt dort mit seinem Vater und seinem Sohn, verliebt sich. Als sein Vater eines Tages von zwei Männern erschlagen wird, steht all das Leid wieder vor ihm, denn die Täter führen Mathys zurück an dunkle Orte. Achten schreibt in eindringlichen Bildern, mit klar ausgeleuchteten Charakteren und kraftvollen Naturschilderungen. Ein packender Roman. Warum man „Nichts bleibt“ im Flugzeug lesen sollte? Vielleicht weil auch dieser Roman vom Flug der Seele erzählt. (va)
„Die Taufe“ (22 Euro): Alkohol trinken und ausgelassen feiern führt oft zu komischen oder tragischen Folgen. So auch in Ann Patchetts neuem Roman. Wäre Bert Cousins nicht uneingeladen auf der Taufe von Franny Keating mit einer großen Flasche Gin erschienen, wäre nichts passiert. Doch bevor die Party beendet ist, haben er und Frannys Mutter geknutscht und damit das Ende ihrer jeweiligen Ehen eingeläutet. Zurück bleiben sechs Kinder, die in einer eigenwilligen Konstellation wie Geschwister aufwachsen und über die Jahre ein Bündnis schmieden. Patchett erzählt mit viel Feingefühl auf 400 Seiten die Eigenarten und Feinheiten einer Patchworkfamilie – Lektüre für einen Langsteckenflug, am besten mit einem Gin Tonic. (kil)
„Charlotte Salomon“ (19,90 Euro) Margret Greiners Biografie der unbekannt gebliebenen jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon ist spannend genug fürs Flugzeug, und bewegend bis zur letzten Etappe ihres kurzen Lebens, das 1943 in Auschwitz endete. In völlig eigenständigem Stil, den es in diesem Buch zu entdecken gilt, hielt die freigeistige Charlotte Salomon ihre Träume in großartigen Bilder-Tagebüchern fest, deren farbige Szenen ineinanderfließen. (eng)
Beim Sonnenuntergang
„Trutz“ (25 Euro): Wer zum Buch greift, wenn die Sonne hinter dem Horizont im Meer versinkt, liegt mit Christoph Heins fulminantem Roman nicht ganz falsch. Denn hier gibt es wenig Licht, aber ganz viel Dunkles, gleichwohl brillant Erzähltes. Die Geschichte um den Schriftsteller Rainer Trutz, seine Familie und seine Freunde umfasst nicht weniger als ein ganzes Jahrhundert. Die Flucht vor den Nazis nach Moskau, die dort sterbende Hoffnung auf ein besseres Leben, das Arbeitslager, die schrecklichen Launen der Weltpolitik, der Tod, immer wieder der Tod, das sich dennoch aufbäumende Leben, die Luft, die am Ende zum Atmen fehlt. Christoph Hein hat mit „Trutz“ einen derart fesselnden Roman geschrieben, dass es einen mit Wucht an Herz und Seele packt. (va)
„Der Mann, der Verlorenes wiederfindet“ (20 Euro): Michael Köhlmeiers wunderbare, sprachmächtige Novelle eignet sich schon deshalb ideal für den Sonnenuntergang, weil ein solcher den Buchumschlag ziert. Das Bild stimmt – ein Leben geht zu Ende. Köhlmeier erzählt vom sterbenden Kirchenmann Antonius, der zu den Leuten sprach wie keiner vor ihm. Eine kluge, hintergründige Geschichte, die von Charisma und Demut erzählt, von Eitelkeit und durchaus auch von Populismus. (msch)
„Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ (20 Euro): Ein ebenso fantastisches wie unheimliches Vexierspiel entfesselt Juliana Kalnáy in diesem Debüt. Ihre Figuren leben innerhalb eines Hauses, wo die Grenzen zwischen den Wohnungen langsam aber sicher zerfressen werden. Löcher tun sich auf, plötzlich sind die Nachbarsjungen in ihren Betten und sehen Goldfische, die sich aus ihrem Aquarium davonstehlen. Oder ist alles nur Einbildung und Tagträumerei? Zum Träumen jedenfalls regt dieses ungewöhnliche Buch an. Und das ist abends ja nicht das Schlechteste. (eng)
„Verrat“ (18 Euro): Wer sich nach einem fröhlich-hellen Sonnentag vorm Zu-Bett-Gehen gruseln will, der lese Pascale Robert-Diards Reality-Thriller „Verrat. Das dunkle Geheimnis der Familie Agnelet“. In dem französischen Mordfall, der Jahrzehnte später doch noch aufgeklärt wurde, liefert ein Sohn seinen Vater ans Messer – obwohl er ihn vorher noch vor Gericht verteidigt hat. (tha)
„Das Versteck“ (23 Euro): Frankreich ist ohnehin ein guter Tipp – das Land ist Gast auf der Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr. Christophe Boltanskis Debüt „Das Versteck“ ist eine Entdeckung: Mit großer Einfühlung erzählt er von seiner Familie, die sich während der deutschen Okkupation in Paris versteckt hielt. Boltanski holt den Stammbaum der Sippe, die aus Odessa stammt, aus der Abstraktion – und berichtet von den Schicksalen eines mörderischen Jahrhunderts. (tha)
Am Strand
„Backfischalarm“ (9,95 Euro): Auf Amrum lässt NDR-Journalist und Kabarettschreiber Krischan Koch diesen humoristischen Kurzweilkrimi spielen. Klassenfahrt auf die Nordseeinsel, mächtig aufgeregt sind die Schüler, der junge Reeder, der auf dem Sonnendeck sitzt, hat alle Aufregung bereits hinter sich: Er ist tot, ermordet. Ein Fall für Thies Detlefsen, dem Koch bereits seinen fünften Roman auf den kräftigen Leib geschrieben hat. Unterhaltsamer Lesestoff zum Schmunzeln. Pflichtlektüre auf dem Kniepsand. Sonnenschirm nicht vergessen! Amrum kann sehr windig sein. (va)
„Wikmans Zöglinge“ (24 Euro) Monumentaler, erstklassig übersetzter Roman des größten estnischen Dichters Jaan Kross, der einst mit Recht für den Literaturnobelpreis nominiert war. „Wikmans Zöglinge“ ist große Literatur und unterhaltsam geschrieben – eine Art „Feuerzangenbowle“ auf Estnisch, mit Pennälerstreichen, bombenfester Schülerfreundschaft und einem Gefühl dafür, in welchem Verhalten, in welchen kleinen Bemerkungen sich der Umgang Heranwachsender mit den sozialen Unterschieden niederschlägt. Zucht und Ordnung gibt es an diesem Gymnasium ebenso wie die Freiheit des Geistes und die Kraft des eigenen Urteils. Und es flirrt die Herzensschwärmerei ... (eng)
„Wir sind die Guten“ (15,90 Euro) Die Rentnertruppe um Ex-Hauptkommissar Karl Sönnigsen ermittelt wieder. Im zweiten Band ihrer Sylter Insel-Krimis stellt Dora Heldt eine vermisste Frau und einen unbekannten Toten am Fuß des Roten Kliffs in den Mittelpunkt. Es geht um Schwarzarbeit, Eifersucht unter alten Freunden, und ein unaufgeklärtes Verbrechen. Die Hobbydetektive, die gern Eierlikör schlürfen, sind eine betuliche Truppe, viel Action kann man nicht erwarten. Wer Sylter Lokalkolorit liebt und nicht allzu viel Spannung erwartet, wird sich mit dem Krimi wohlfühlen. (jes)
„Kämpfen“ (29 Euro) Der sechste und letzte Band von Karl Ove Knausgårds autobiografischem Buchprojekt ist ein Schwergewicht. Inhaltlich, weil der Norweger in seinem Bekenntniswahn erneut weder sich noch andere schont. Formal, weil der 1280-Seiter so schwer ist, dass er sich nur mit einiger Kraftanstrengung über längere Zeit in Händen halten lässt. Weglegen mag man diese soghafte Geschichte eines Lebens mit all seinen Höhe- und Tiefpunkten dennoch nicht, zu sehr packt sie von der ersten Seite an. Wenn es jemals einen guten Grund gab, sich einen Kindle zuzulegen, dann jetzt. Auf dem E-Reader ist „Kämpfen“ sogar strandtauglich. (hot)
Für Kinder
„Snöfrid aus dem Wiesental (2)“ (14,99 Euro, ab ca. 6 J.): Ein Snöfrid hat es gern unaufgeregt. Er sagt nicht viel mehr als „Hm“, was andererseits ziemlich viel bedeuten kann. Und dieser Snöfrid aus dem Wiesental, der hat schon einmal ein Abenteuer überstanden, Feen und Naturwesen getroffen. Im zweiten Band („Die ganz und gar abenteuerliche Reise zu den Nebelinseln“) von Andreas H. Schmachtl segelt der gemütliche Snöfrid, der ein bisschen an den kleinen Hobbit erinnert, der nächsten Heldengeschichte entgegen – bevor im Dezember Band 3 erscheint. (msch)
„Wo ist Nils der Eisbär?“ (14,99 Euro): Abgesehen davon, dass im Buchtitel jemand künstlerische Freiheit bei der Kommasetzung walten ließ, ist dieses pfiffige Werk nicht nur ein Bilder-Buch, sondern ein wahres Gemälde-Buch. Der Eisbär Nils ist dabei keine knuffige Kinderbuch-Figur, sondern eine Skulptur des Bildhauers François Pompon, die seit vielen Jahren in Frankreich im Musée d’Orsay zu Hause ist. „Ab und zu hat der Eisbär aber einfach keine Lust mehr, immer an derselben Stelle zu stehen“, heißt es im Prolog. Dann versteckt Nils sich in anderen Kunstwerken, in Gemälden von van Gogh, Monet oder Degas – und die „Leser“ müssen suchen. Das macht schon kleinen Kindern großen Spaß, Kindern im Vorschulalter kann man beim Suchen und Blättern über die Maler und Gemälde erzählen (das Buch selbst leistet dies leider nicht). Und auch als Erwachsener hat man beim kniffligen Versteckspiel seinen Spaß. Geradezu ideal für lange Bahnfahrten oder langweilige Flugreisen. (msch)
„Die Mississippi-Bande. Wie wir mit drei Dollar reich wurden“ (14,99 Euro): Der Süden der USA, Anfang des 20. Jahrhunderts: Peter, Eddie, Julie und Tit finden beim Angeln in einer alten Blechdose drei Dollar, viel Geld für die armen Kinder. Sie beschließen sich davon im Versandkatalog eine Pistole samt Munition zu kaufen. Aufgrund einer Verwechslung bekommen sie jedoch statt der Waffe eine alte kaputte Uhr und ein packendes Abenteuer dazu. Die Detektivgeschichte von Davide Morosinotto ist flott und spannend erzählt – ein spannendes Buch für Kinder ab zehn Jahren. (kil)
„Fünf Freunde erforschen die Schatzinsel“ (7,99 Euro): Die jungen Leute heute sollten mehr denn je auch in Büchern analoge Abenteuer erleben. So wie die berühmten Fünf Freunde, die ihre Eltern (und Großeltern) schon gelesen haben. Enid Blytons Romane sind Klassiker und in Wirklichkeit völlig zeitlos. Aber wie aufregend es doch in einer Welt war, in der Schatzkarten Rätsel hervorriefen und nicht das neue I-Phone ... (tha)