Winsen. „A Summer’s Tale“ in Luhmühlen ist der gut erzogene Musterknabe unter den Open-Air-Festen. Ein Festival für die ganze Familie
Auf dem Campingplatz in der Teenager-Clique nebenan trägt ein Junge ein Wacken-Shirt. Ob er weiß, dass er auf dem „falschen“ Festival ist? Schließlich ist Wellness auch irgendwie hardcore. Zu erleben ist das bei dem Open Air mit dem malerischen Namen A Summer’s Tale auf dem Reitgelände Luhmühlen nahe Lüneburg: Nicht nur Rock- und Pop-Konzerte dürfen da bestaunt werden, sondern es geht darum, sich zu entspannen, sich zu spüren und auszuprobieren, womöglich einige Tage und Nächte eine andere Version seiner selbst zu sein.
Event zum dritten Mal
Dass bei diesem Sommermärchen, dass der Hamburger Veranstalter FKP Scorpio zum dritten Mal ausrichtet, vieles anders ist als bei traditionellen Freiluft-Sausen, zeigt sich bereits am Morgen: Während bei Festivals wie dem Hurricane gegen Mittag einige versprengte Musikhungrige sowie verpeilte Die-Nacht-Durchmacher vor die Bühnen laufen, um die ersten Bands des Tages zu hören, reihen sich beim Summer’s Tale um kurz vor 10 Uhr zwei Dutzend Besucher mit Yoga-Matten unterm Arm wartend vor dem Einlass auf. Eine erste Übung in Geduld. Wohlfühlen ist schließlich, wenn man so will, nichts für Weicheier.
Die Älteren verkosten Wein oder mixen Gin
Gilt es eigentlich schon als Meditation, sich im Schneidersitz im Zelt die Zähne zu putzen? Nicht? Okay, dann also bei frühen Sonnenstrahlen übers Feld zum Qigong, um ins innere Gleichgewicht zu kommen. Raus aus den Gummistiefeln und mit Gras zwischen den Zehen einen guten Stand finden. Mit ruhiger Stimme animiert Anke Bellmann zu fließenden Bewegungen. Der Fitnesstrainer als Popstar: Rund 50 Leute haben sich eingefunden, um ihre Körper mit chinesischer Trainingskunst locker zu machen. Und siehe da:
Die Übung „Wolken teilen“ funktioniert schon mal hervorragend: Die Sonne erscheint, die Wiese dampft, der Wind weht durchs Haar. Schon schön. Ein Lächeln sollen wir mit in den Tag nehmen. Warum nicht? Vielleicht klappt es ja doch, ein besserer Mensch zu werden. Ausgeglichener. Irgendwie besser. Bei Gesa Neitzel immerhin geht es um nicht weniger als die Suche nach dem Glück. Die Autorin hat ihren Medienjob in Berlin aufgegeben, um in Afrika Rangerin zu werden. Über ihre Selbstfindung hat sie ein Buch geschrieben, aus dem sie im Café-Zelt liest, während die Barista starbucks-preisige Latte macchiato für 4,50 Euro zubereiten. Sinnsuche ist nicht umsonst.
Purzelbäume schlagen
Was bringt so ein Festival denn überhaupt? Und muss immer alles nützlich sein? Wer sich umguckt, der sieht Kinder bunte Bänder flechten, Seiltanzen und Purzelbäume schlagen, während die Älteren in Workshops Wein verkosten und Gin mixen, Klappstühle schreinern oder Schmuck basteln, Comics zeichnen und Swingtanzen lernen. Viele liegen aber auch einfach im Grünen, schauen und schlendern.
Gut 30 Prozent der 12.000 Besucher dürften Familien sein. Doch egal ob erlebnisorienierter Jugendlicher oder pop-affines Elternteil – alle wollen sie doch letztlich hinaus aus dem Alltag, weg vom Funktionieren, hinein ins Quatsch-machen-Dürfen. Und das klappt bei einer Band wie Randale aus Bielefeld besonders gut.
Die Musiker sehen in ihrer schwarzen Kluft aus wie richtig harte Typen, machen aber Songs für die Jüngsten. Wenn sie zu krachenden Gitarrenklängen in Motörhead-Manier das Lied von „Hardcore Hase Harald“ anstimmen, ist die musikalische Früherziehung inklusive: Luftgitarre spielen, die Zunge böse herausstrecken und mit viel Geschrei eine Zugabe einfordern – Sänger Jochen Vahle erklärt all diese Rock-’n’-Roll-Rituale mit dunkel grollender Stimme. Die Kleinen, die quietschen und toben wie verrückt. Und Papa und Mama recken zum Bier die Fäuste in die Höhe.
Die Popkultur, sie hat sich verändert. Im alten Jahrtausend, da schufen sich die Teenies mit Musik eine Gegenwelt zu den Erwachsenen. Heute üben sich rocksozialisierte Erzeuger gemeinsam mit ihren digital heranwachsenden Sprösslingen im Fan-Dasein unter freiem Himmel. Der Knirps mit neonfarbenen Kopfhörern rastet aus neben der Dame mit dem grau melierten Kurzhaarschnitt. Im Endeffekt ist es die Musik selbst, die die Grenzen des Alters aufhebt. Etwa, wenn sie in ungeahnten Variationen den menschlichen Herzschlag imitiert wie bei der Popkünstlerin Tash Sultana, die mit Keyboards, Drumkit, Gitarren, Trompete und Stimme einen sphärischen wie hoch rhythmischen Electro-Pop-Sound erzeugt. Oder wie bei PJ Harvey, die wie eine Magierin ein Set von Rock bis Avantgarde herbeizaubert.
Das Gras ist sehr grün, flokati-weich und müllfrei
Einige Anpassungen sind allerdings durchaus notwendig, wenn das Publikum noch grün hinter den Ohren ist. „Wir spielen heute viele unserer obszöneren Lieder nicht“, erklärt Bernd Begemann. Was den Hamburger Pop-Entertainer jedoch nicht davon abhält, direkt mal seinen Hit „Verhaftet wegen sexy“ über die Waldlichtung schallen zu lassen.
Wenig zimperlich geht es auch bei der Lesung „Zeit für Zorn“ zur Sache, bei der Türsteher Geschichten aus ihrem Kiezalltag erzählen. Doch St. Pauli wirkt eher wie eine Ahnung, wenn sich gleichzeitig unter einer alten Eiche dösen lässt. Und für wen diese Sache mit der Natur nicht bloß reine Kulisse sein soll, der kann sich bei Kräuterwanderung oder Fährtenlesen näher befassen mit Flora und Fauna. Auch der Workshop „Wenn Bäume sprechen“ im Wissenszelt geht in die Tiefe. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als Powerpointvortrag und mit Anschauungsmaterial erfahren die Zuhörer, was uns die Jahresringe im Inneren von Holzstämmen zu berichten haben.
Lernen, werken und gestalten, Erholung suchen und Bedeutung finden – das Summer’s Tale ist wie eine gut organisierte Pause vom Leben, die zugleich das Leben imitiert. Eine Utopie, in der das Gras tatsächlich grüner ist, zudem flokatiweich und derart müllfrei, als würde jeden Morgen kurz durchgesaugt. Ein Sommermärchen eben, das die Hamburger Poster-Künstlerin Grace Helly perfekt illustriert hat. Auf dem von ihr gestalteten Kunstdruck zum Festival hält ein Mädchen wie bei den Gebrüdern Grimm sein Kleid auf. Doch statt Sternen fallen ihr Vinylplatten in den Schoß. Eine Idylle, zu schön, um wahr zu sein.