Hamburg. Der Abend war eine Liebeserklärung an die große russische Ballett-Tradition. Waghalsig und unverändert modern.

Als stürmisch gefeiertes, konfettiberieseltes Fest des Tanzes sind am Sonntag in der Staatsoper die 43. Ballett-Tage mit der gut fünfstündigen Nijinsky-Gala vor ausverkauftem Haus zu Ende gegangen. Zu Recht dankte John Neumeier, der wie immer den Abend moderierte, auch den Technikern, die im Hintergrund reibungslos ganze Bühnenbilder wechselten – vom Märchenwald der Sylphide bis zu Tatjanas schmuckem Boudoir.

Der Abend ist eine Liebeserklärung an die große russische Ballett-Tradition, was zur Folge hat, dass die aktuellen Ballette aus Russland leider fehlen. Das modernste ist von 1968 – von Yuri Grigorovich, dem Titanen des Bolschoi Theaters, zum 90. Geburtstag. In Hamburg tanzen aus seinem „Spartacus“-Ballett Erik Murzagaliyev und Ksenia Ryzhkova vom Bayrischen Staatsballett ein waghalsiges, unverändert modernes Pas de deux.

Mit Volldampf in die Kurve

Es ist ein Liebestanz, verbindend und loslassend in einem, getanzt von zwei ehemaligen Sklaven, Spartacus und Phrygia. Gerade sind sie ihre Fesseln losgeworden, sie sehnen sich ebenso stark nach Liebe wie nach der Freiheit: Spartacus stemmt Phrygia in die Luft, während sie sich mit ausgestrecktem Arm an seinem Nacken festhält.

Den Anfang aber machen die kleinen und großen Schüler der Ballettschule, die unter anderem den „Frühling“ tanzen, choreografiert vom ukrainischen Solisten Konstantin Tselikov als ein vom russischen Volkstanz inspiriertes, recht komplexes Gruppen­ballett.

Das Philharmonische Staatsorchester unter Simon Hewett wirft sich noch einmal mit Volldampf in die Kurve, spielt Tschaikowsky, Prokofjew, Strawinsky und alle anderen Ballettmusiken mit Verve und Feingefühl.

Es folgen diverse Pas de deux aus dem sehr traditionellen „Dornröschen“ von Marius Petipa (der ab Mitte des 19. Jahrhunderts das russische Ballett um französische und italienische Einflüsse bereicherte) und John Neumeiers „Nussknacker“. Mit einem Grand Pas de deux brillieren die tadellose Carolina Agüero und der elegant springende, makellos drehende Alexandre Riabko.

Die acht vielseitigen Tänzer des Bundesjugendballetts glänzen mit einem lebendigen, anspruchsvollen, auch humorvollen Ballett, das noch dazu gemeinsam entstanden ist. Einen weiteren Höhepunkt liefern die drei fantastischen Solisten des chinesischen Nationalballetts mit ihrem faszinierenden „Höllentanz“: Die radförmig in die Luft geschlagenen Sprünge der beiden Männer können ihre Wurzeln in der Kampfkunst nicht leugnen.

Neumeier verschränkt die Zeitebenen

Tief prägt sich John Neumeiers Choreografie zu der Rekonstruktion des Michel-Fokine-Balletts „Le Pavillon d’Armide“ ein, diesmal mit vier ­Solisten vom Wiener Staatsballett. Neumeier verschränkt darin die Zeitebenen aus dem Leben Nijinskys. ­Mihail Sosnovschi interpretiert den zeitgenössischen Nijinsky in Hose und T-Shirt, hin- und hergerissen zwischen den Trugbildern seiner beglückenden Vergangenheit als Ballett-Tänzer und der leeren Gegenwart in der Nervenheilanstalt, in der er sich gegen sein Schicksal aufbäumt.

Mit Ivan Urban in der Rolle von Nijinksys Geliebtem ­Diaghilev tanzt Sosnovschi ein intimes Pas de deux, das die leidenschaftliche Zuneigung, Geborgenheit, aber auch Abhängigkeit und Einsamkeit der beiden Männer sichtbar macht. In ihrem Festhalten, Umschlingen, Anlehnen und Aufrichten liegen Zärtlichkeit und Stärke.

Kecke neue Solistin

Erste Eindrücke von der Dezember-Premiere der kommenden Saison vermitteln der Erste Solist Karen Azatyan und die technisch glasklare, kecke neue Solistin Madoka Sugai: In aufwendigen Kostümen wird ein Grand Pas de deux mit Brautjungfern aus Rudolf Nurejews Fassung von Petipas Choreografie „Don Quixote“ gegeben. Das Ende des zweiten Teils bildet der Höhepunkt aus Neumeiers Choreografie, die mit Nijinsky und Strawinskys prophetischem Skandalwerk von 1913 verbunden ist: „Le Sacre du printemps“ (Das Frühlingsopfer), mit der kraftvollen, ausdrucksstarken Patricia Friza, die sich als Geopferte total verausgabt.

Florencia Chinellato in ihrem fulminanten Rollendebüt als Aschenputtel und Christopher Evans als Prinz tanzen nach der zweiten Pause ein liebestrunkenes Pas des deux. Dann die nächste Überraschung: Für den recht kurzen Part der elfengleichen Anastasia Stashkevich mit Artem Ovcharenko im Schottenrock wurden eigens die Riesen-Prospekte für einen Märchenwald aufgehängt. Der Schäfer James verliebt sich in die geflügelte Waldfee La Sylphide aus der Zauberwelt, wundervoll getanzt von diesen beiden Spitzentänzern des Moskauer Bolschoi-Balletts. Die Ballerina trägt exakt das gleiche Kostüm, das bereits die berühmte Tänzerin Marie Taglioni im Jahre 1837 in St. Petersburg trug.

Atemberaubendes Schluss-Pas-de-deux

Zum Ausklang zeigen die Prima Ballerina Alessandra Ferri und der wahrhaftige Edvin Revazov in John Crankos atemberaubendem Schluss-Pas-de-deux aus „Eugen Onegin“ noch einmal, was Tanz außer technischer Virtuosität noch sein kann: Ausdruck widerstreitender, kompliziertester Gefühlslagen.