Hamburg. Der Intendant des Hamburg Balletts im Interview über das Tanzen mit 78 Jahren, Donald Trump und die Zukunft der Compagnie.
Mit der Premiere von „Anna Karenina“ im Juli und der Wiederaufnahme von Tschechows „Möwe“ am 26. Februar gibt John Neumeier der Saison einen Russland-Schwerpunkt. Mit dem Abendblatt sprach der Intendant des Hamburg Balletts außerdem über sein Lebenswerk, das Politische im Tanz, die ewige Angst vor dem ersten Probentag – und ein spät von ihm selbst gelüftetes Geheimnis: Am 24. Februar feiert Neumeier seinen 78. Geburtstag. Und nicht seinen 75., wie lange angenommen.
Ihr wahres Geburtsjahr ist 1939, nicht 1942, wie Sie gerade gestanden haben. Wie kam es zu der falschen Version Ihres Lebenslaufs?
John Neumeier: 1962 kam ich von Amerika nach Europa mit dem Ziel, meine Ballettausbildung an der Royal Ballet School in London abzuschließen. Um bei der Registrierung nicht abgewiesen zu werden, habe ich mein Geburtsjahr spontan um drei Jahre nach hinten datiert. Nur zu gerne wäre ich schon früher nach London gegangen, aber meine Eltern hatten darauf bestanden, dass ich zunächst die Universität abschließe und meinen Militärdienst absolviere, bevor ich meinem Wunschberuf nachgehen würde.
Welches sind die wichtigsten Eigenschaften, die halfen, nach diesem kuriosen Start Ihrer Laufbahn das Hamburg Ballett aufzubauen?
Neumeier: Ich habe mehr als die Hälfte meines Lebens mit der Leitung dieser Compagnie verbracht. Wenn ich eine Grundbedingung für deren erstaunliche Entwicklung nennen soll, dann ist es: Ehrlichkeit. In einer Compagnie, in der viele Menschen mit derart unterschiedlichem kulturellen Hintergrund künstlerisch zusammenarbeiten, sind Offenheit und Ehrlichkeit unabdingbar. Abgesehen davon nehme ich diese Haltung auch gegenüber meinen eigenen Werken ein.
Im März gehen Sie wieder mit dem Hamburg Ballett auf Tournee in die USA. Mit welchem Gefühl reisen Sie in der neuen Ära Trump dorthin?
Neumeier: Ich habe meine Meinung über Donald Trump nie geheim gehalten, und die ersten Wochen seiner Amtszeit bestätigen meine schlimmsten Befürchtungen. Trotzdem fühle ich mich mit diesem Land eng verbunden. Gerade in schwierigen Zeiten sehe ich es als meine Aufgabe, eine kulturelle Brücke zu den Menschen dort zu schlagen.
In St. Petersburg haben Sie zu einer Gala 2012 einen Männer-Pas-de-deux aus Ihrem Ballett „Tod in Venedig“ ins Programm genommen. Eine Liebesgeschichte mit politischer Signalwirkung. Empfinden Sie Ihre Arbeit derzeit als unpolitisch?
Neumeier: Ich halte wenig davon, wenn Kunst sich allzu sehr darauf einlässt, politisch zu aktuellen Themen Stellung zu beziehen. Der von Donald Trump propagierte Politikstil stellt nun allerdings jede Kunstform vor eine neuartige Herausforderung. In Zeiten „alternativer Fakten“ könnte das Beharren auf einer Kunstform wie dem Ballett, das den Zuschauern das gemeinsame Erleben vielschichtiger menschlicher Zusammenhänge „zumutet“, als politisches Statement gedeutet werden.
Etwas Neues zu erschaffen heißt auch, zu leiden und zu zweifeln. Warum begeben Sie sich weiter in diesen Kreislauf aus harter Arbeit, Zweifel und Glück?
Neumeier: Das ist das Geheimnis des kreativen Arbeitens. Trotz aller Lebenserfahrung steht für mich am Beginn der Arbeit an einem neuen Ballett ein Gefühl der Angst. Bei aller Mühe, die mit der Realisierung einer Uraufführung verbunden ist, empfinde ich es aber immer wieder als beglückende Erfahrung, ein neues Werk an das Publikum übergeben zu können. Die kreative Zusammenarbeit mit jungen Menschen entfacht jedes Mal eine Euphorie, die über alle Mühen hinwegträgt und mich immer wieder neue Werke in Angriff nehmen lässt.
Sie waren selbst Ballett-Tänzer. Wie würden Sie als 78 Jahre alter Choreograf die künstlerische Beziehung gerade zu Ihren erfahrenen Tänzern beschreiben, die intuitiv ausformen und fortführen, was Sie als Choreograf körperlich andeuten? Welche Rolle spielt diese Beziehung?
Neumeier: Tanz ist mein Leben. Wie Sie wissen, habe ich ab 1963 am Stuttgarter Ballett getanzt, auch als Solist und in führenden Rollen. Mit der Übernahme meiner ersten Stelle als Ballettdirektor habe ich das aktive Tanzen nicht aufgegeben. Noch 2005 entstand eine Filmproduktion meiner Matthäus-Passion, in der ich die Hauptrolle getanzt habe. Insofern trete ich bis heute meinen Tänzern als ein Choreograf gegenüber, der auf einen immensen Erfahrungsschatz zurückgreifen kann. Was mein Körper an Beweglichkeit eingebüßt hat, versuche ich zusätzlich mit Stimme und Stimmung auszudrücken.
Mit vielen Ihrer Mitarbeiter verbindet Sie eine jahrzehntelange Zusammenarbeit, die meisten haben früher in Ihrer Compagnie getanzt. Hier gibt es also ein Band aus Loyalität, Kompetenz und Kontrolle.
Neumeier: Seit meinem Arbeitsbeginn in Hamburg hat sich die Zahl der Vorstellungen des Hamburg Balletts mehr als verdoppelt auf derzeit 90 Vorstellungen pro Saison. Diese außergewöhnliche Leistungsfähigkeit lässt sich nur dadurch bewerkstelligen, dass ich Mitarbeiter habe, die meine Werke genauestens kennen und auch die stilistische Ausrichtung in exzellenter Weise beherrschen. Das schätze ich.
Wie hat die weltweite Strahlkraft des Hamburg Balletts John Neumeier Ihrem Eindruck nach die internationale Wahrnehmung Hamburgs verändert?
Neumeier: In den letzten Monaten wurde in unserer Stadt viel darüber debattiert, inwiefern die Elbphilharmonie eine derartige Aufgabe übernehmen kann. Meiner Beobachtung nach ist sie zu einer starken Marke geworden. Was aber den Spielbetrieb anbelangt, fällt es mir schwer, eine „Hamburger Identität“ zu entdecken, weil die angestrebten musikalischen Leuchtturmprojekte maßgeblich durch einen florierenden Gastspielbetrieb eingetauscht werden. In dieser Hinsicht steht das Hamburg Ballett für einen diametral entgegengesetzten Ansatz. Wir sind jeden Tag im Ballettzentrum in Hamm, wo die Stars der Compagnie ebenso proben wie der Nachwuchs der Ballettschule und die Mitglieder des Bundesjugendballetts. Bei unseren internationalen Gastspielauftritten auf renommierten Bühnen werden wir als Botschafter Hamburgs und Deutschlands wahrgenommen.
Was müsste sonst noch passieren?
Neumeier: Um Hamburg als Kulturstadt in der internationalen Wahrnehmung zu stärken, müsste der Senat alles daransetzen, möglichst viele solcher „Kulturbotschafter“ hervorzubringen. Allein auf den Spielbetrieb eines – wenn auch hochattraktiven – Gebäudes zu setzen scheint mir zu wenig.
Warum haben Sie allen Verlockungen, woandershin zu wechseln, widerstanden?
Neumeier: Es gab nie „den“ einen Grund, der mich an Hamburg gebunden hätte. Letztlich ist es die kontinuierliche Erfolgsgeschichte des Hamburg Balletts, die einen Weggang verhindert hat. Allerdings fiel die Entscheidung manchmal nur knapp aus. Beispielsweise hatte der Senat erst dann die finanziellen Mittel für die Einrichtung des Ballettzentrums freigegeben, als ich einen nahezu unterschriftsreifen Vertrag mit Wien ausgehandelt hatte. Ein Selbstläufer war meine Tätigkeit als Intendant zu keiner Zeit – man denke nur an die Budgetfrage. Aber insgesamt hatte ich gute Gesprächspartner unter den elf Kultursenatoren seit 1973.
Sie haben bis jetzt ein riesiges Œuvre von mehr als 150 Choreografien geschaffen. Wie stellen Sie sich idealerweise die Zukunft Ihres Repertoires in Hamburg vor, wenn Sie selbst sich anderen Dingen zuwenden? Wie kann dessen Zukunft gesichert werden, wenn die Compagnie unter neuer Leitung ein anderes Formenvokabular erlernt, neu und anders geprägt wird?
Neumeier: Mein Werkverzeichnis umfasst 156 Einträge, die nächste große Uraufführung wird „Anna Karenina“ im Juli sein. Im Hinblick auf mein Gesamtwerk wäre es für mich besonders schön, wenn Hamburg sich dieses Erbe zu eigen macht, indem es die Pflege dieser Tradition übernimmt – wie die Marius-Petipa-Tradition in St. Petersburg oder die George-Balanchine-Tradition am New York City Ballet. Falls sich dafür gar keine Perspektive entwickeln lässt, müsste ich andere Lösungen in Erwägung ziehen.