Hamburg. Die Geigerin und das Konzerthausorchester Berlin begeistern. Dabei nahm sie nichts für selbstverständlich und alles ernst.

Mehr Kontrastprogramm in 24 Stunden geht kaum: Am Montag noch tosten die von Generalmusikdirektor Kent Nagano entfesselten Philharmoniker-Klangmassen von Schönbergs prall aufgepumpten „Gurre-Liedern“ durch den Großen Saal, einen Abend später dann passierte das genaue Gegenteil: Sibelius’ „Valse triste“, eigentlich nichts Nervenaufreibendes. Schulorchester-Material. Doch nun standen nur einige, ziemlich wenige Musiker des Berliner Konzerthaus­orchesters auf der Bühne. Und man hörte, glasklar und hauchfein dunkel pulsierend, dass es zwei Kontrabässe waren, die den Herzschlag dieses abgründig morschen Zartbitter-Stücks vorgaben.

Chefdirigent Iván ­Fischer, offenbar kein Freund übertriebener Lenkmanöver, beließ es dabei, die sehr leise Scandi-Noir-Grübelei eben nur fast aus­einandertreiben zu lassen. Für die erste Begegnung mit der Respekt verlangenden Akustik des Raums, bei der das Piano drastisch weit herunterfuhr, war dieses gelungene Experiment schon mal ein feiner Einstieg. So durfte es gern weitergehen.

Karten für die nächste Spielzeit

Ein Sibelius-Violinkonzert und eine temperamentvolle Milhaud-Zugabe für Geige und Klarinette später machte der quirlige Leitkobold des Abends dort ­radikal weiter, wo der Grandseigneur Fischer das Programm begonnen hatte: Patricia Kopatchinskaja spielte eine der sechs Capricen des eigenbrötlerischen Zeitgenossen Salvatore Sciarrino. Nervös aufgekratztes Flageolett-Flirren und -Flüstern am Rande der Spielbarkeit, Andeutungen an Kadenzen und nach Halt suchende Tonspielereien, oft auf der Bruchkante zur Unhörbarkeit, ins Nichts des Saals ausklingend.

Noch schöner fast als diese fragile Musik-Ahnung war aber der selige Gesichtsausdruck der Geigerin, der immer wieder beglückt und irritiert zu fragen schien: Wo bin ich jetzt gerade durch diese ­Musik? Was passiert hier mit mir? Wo geht’s hin? Und wieso ist das so? Antworten gab sie nicht, warum auch. Die Fragen, die wortlos gestellt wurden, ­waren anregend genug.

Zeitgenössisches Paralleluniversum

Kürzlich erst hatte Kopatchinskaja, in dieser Saison Residenzkünstlerin im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt, im „Tagesspiegel“ die Mutlosigkeit vieler allzu klassischer Programme beklagt: „Wir präsentieren Mumien“, sagte sie, „wir machen aus den Stücken abrasierte Kaninchen, die alle aus der gleichen Zucht stammen“, und: „Konzertsäle sollten ­Laboratorien sein“.

Kein Wunder, dass sie sich aus diesem Was-haben-wir-denn-hier?-Blickwinkel mit dem vermeintlich harm­losen, guten alten ­Sibelius-Konzert beschäftigte, es von Grund auf umkrempelte, auf links drehte, beherzt gegen den Strich bürstete, hinterfragte und zum Losrennen auf sehr eigene ­Füße stellte. Eigentlich steht das Stück ­zumindest mit einem Bein noch in der Virtuosentradition des späten 19. Jahrhunderts. Man kann prächtig damit glänzen. Doch Kopatchinskaja warf es lieber und mit voller Wucht gezielt in ein sehr zeitgenössisches Paralleluniversum, in dem ganz andere, ihre sehr eigenen Spielregeln herrschten. Glanz war ihr da egal. Die Tonfärbung war oft aschfahl und kühl, monochrom funkelnd wie Schnee im skandinavischen Sonnenlicht.

Volles ­Risiko

Volles ­Risiko, gerade ebenso grenzwertige Intonationsschattierungen statt voller Kontrolle, immer wieder mal ­drehte sie sich zum jeweiligen Dialog-Instrument im Orchester, um den Gesprächsfaden auch ja nicht abreißen zu lassen. Mit einem massiven Doppelrahmstufe-Vibrato wird man diese Interpretin jedenfalls so schnell nicht erwischen.

Sie legte sich mit der Faktur des Solo-Parts an, nahm nichts für selbstverständlich und alles ernst. Im langsamen Satz gönnte sie sich nur ein Mindestmaß an schwelgerischem Schönklang, bevor es wie in einem atemlosen Rausch ins Finale ging. Immer wieder drängte sich der Eindruck einer Künstlerin auf, die ihre wichtigste Aufgabe darin sieht, aus der Musik heraus gegen die Gitterstäbe ihrer Notenlinien anzutreten, in einem Duell, in dem es keinen Verlierer gibt. Dankbarster Beifall, verbunden mit dem Bedauern, sie so schnell nicht wieder in Hamburg zu erleben.

Hörspiel-Drama für große Besetzung

Expressionistischer Abbinder des Abends war, bei einem ungarischen ­Dirigenten naheliegend, Bartók, seine vollständige Orchesterpantomime über den „Wunderbaren Mandarin“. Tadellos gespielt, ein Hörspiel-Drama für große Besetzung, bei dem Fischer klarmachte, wie tief an seinem Herzen dieser Komponist einen Ehrenplatz hat.