Hamburg. Kopatchinskaja holt ihr Publikum gern aus der Komfortzone. Sieben Posaunisten ließ sie etwa „so schrecklich wie möglich“ spielen.

Die Vorzeichen ändern sich, an mehr und mehr Adressen der routiniert liefernden Klassik-Branche. Die meisten Virtuosen polieren gern das Tafelsilber aus der Erbstücke-Schatztruhe, sie spielen, was die meisten so gern hören, weil sie es kennen und mögen und damit routiniert umgehen können. Es gibt aber auch die anderen. Diejenigen, die ein Konzert aus wilde, gefährliche Kreuzung aus Moral-Lektion, Erweckungserlebnis, Wundertüte und Drahtseilakt verstehen. Weit vorn dabei, wenn es ums Inszenieren solcher Ausnahmezustände geht, ist die Geigerin Patricia Kopatchinskaja, seit vielen Jahren, und immer drastischer.

„Machen Sie mit uns etwas Besonderes“, diese Anfragen bekommt sie regelmäßig. Die 41-Jährige kann längst nicht mehr anders und will das auch gar nicht. „Diese Noten, das ist einfach ein Plan. Wie ein Sternenhimmel. Da musst Du Deine Vision herauslesen.“ Das ach so schöne Beethoven-Violinkonzert, nur schön zu spielen und sonst nichts? „Das geht mich gar nichts an. Das ist der Autopilot in einem Flugzeug, mit dem ich nicht fliege“, sagt sie, „es geht mir nicht um Perfektion, nicht um das Weitermachen in der Sackgasse.“

Kopatchinskaja: "Es ist gut, ein System zu stören"

Und das Schöne daran: Es funktioniert. Aufrichtig, diese Kategorie ist ihr wichtiger als falsch oder richtig. Hauptsache Spielen. „Es ist viel leichter geworden“, Veranstalter und Konzertsäle müssen nicht mehr vom Mut zum Anderen überzeugt werden. „Sie nehmen das sehr ernst. Alle wollen das machen. Alle sind enthusiastisch.“ Alle, ohne bedenkentragende Wenns und Abers? Schön wär‘s ja. Aber die Richtung der lehrreichen Kurskorrektur ist stellenweise spürbar. „Ich glaube, es ist gut, ein System zu stören – dann sitzt man wieder auf der Kante.“ Und auch Kollegen schwenken auf diese Linie ein: „Die, die es satt haben, die tun auch was.“

Das Elbphilharmonie-Konzert am Montag – ein Hin und Her zwischen Barockem von Vivaldi und frisch komponiertem Material aus Italien – war vergleichsweise harmlos, wenn man sich anschaut, wie weit Kopatchinskaja schon gegangen ist. Für das Lucerne Festival entwarf sie das Late-Night-Programm „Dies irae“: Ein düsteres Collage-Projekt, getrieben vom Zorn über das Zuwenig gegen die Klimakatastrophe, über den Umgang mit Flüchtlingen. Über das Achwirdschonnichtsoschlimmsein-Denken.

Sie ließ sieben Posaunisten apokalyptisch „so schrecklich wie möglich“ spielen und für den Schluss hatten sie dem Luzerner Publikum tickende Metronome unter ihre Sitze gestellt. „Ich wollte den Leuten zeigen: Wir sitzen alle auf einer Zeitbombe. Wenn wir nichts dagegen unternehmen, dann gibt es keine nächste Generation. Und ich will nicht mehr meine Zeit verlieren mit diesem Üben von Details, nur damit ich gut rüberkomme. Ich will gar nicht mehr gut rüberkommen. Ich will, dass die Leute sich etwas überlegen.“

"Krieg & Chips" gegen die Ignoranz

Seit Kurzem ist Kopatchinskaja in ihrer Wahlheimat Bern Künstlerische Leiterin des Kammerorchesters Camerata Bern. Dass das Publikum dort seine Meinung auf Post-Its zu Papier bringen kann, damit das Ensemble daraus lernt, ist nur eine pfiffige Randerscheinung ihres Engagements. Vor einigen Monaten spielten sie dort ein Konzert namens „Krieg & Chips“: Ein Schauspieler saß mit auf der Bühne, in einer Wohnzimmer-Deko Chips wegmampfend, während auf einer Leinwand das Video einer zerfetzten syrischen Stadt lief. Die Insel des Seligen gegen den Rest der wahren Welt.

Zu hören war unter anderem barocke Schlachtenmusik von Biber Crumbs „Black Angels“, dessen Klage gegen den Vietnam-Krieg, und am Ende Mozarts letztes Violinkonzert. „Da, wo es sich so reibt, da entsteht besondere Energie. Der Mozart klang plötzlich so bieder. Die Frage entstand: Wieso machen wir das überhaupt?“ Bei „Zeit & Ewigkeit“ waren Geistliche aus mehreren Religionen dabei, das „Kol Nidre“ des Avantgarde-Saxophonisten John Zorn, ein russisches Revolutionslied bei Kerzenlicht, und alle sangen.

Diese Musikerin erfindet einen fast schwindlig mit ihren Gesamtkunstwerk-Einfällen und erzählt davon im Prestissimo. Gerade in der Konzept-Werkstatt ist Schönbergs „Pierrot lunaire“, mit der Geigerin als Sprecherin. Sie will das als Cabaret-Stück zeigen, mit Zirkusartisten und Barockmusik. „Ich will Seiltänzer, Jongleure… das sind surrealistische Bilder! Du gehst in eine Welt und kommst da nicht mehr raus! Das ist wie Haschisch rauchen! Das ist phänomenal…!“ So viele Ideen, so wenig Zeit.

"Es kann ja nicht jeder so verrückt sein wie ich"

Solche Kombinationen finden sich nicht von allein, sie sind das Ergebnis zäher, anstrengender Puzzle-Arbeit. Auf den Hochschulen muss man sich Technik draufschaffen, wie man Programme gegen den Strich komponiert, steht nicht auf den Unterrichtsplänen. „Ich hab‘s selbst lernen müssen. Es hat mir auch niemand beigebracht, wie ich moderne Musik spiele. Und ich bin froh darüber, weil ich deswegen selbst verstehen musste, worum es mir geht.“

Inzwischen ist Kopatchinskaja nicht mehr die einzige, die so gern die guten alten Spielregeln aus dem Fenster wirft. Die Querdenker kennen sich und verabreden sich, sie hecken Dinge gemeinsam aus, weil sie es satt sind, nur Erwartungen zu bedienen. „Das ist kein Virus“, betont Kopatchinskaja, während ihre Hände um sie herum fliegen, „das ist ein Schlüssel! Und den hat jeder, er muss nur aus dem Käfig herauskommen.“ Der bei einigen Stars allerdings dick vergoldet ist? „Trotzdem. Um so mehr muss man dann da raus. Es hängt von uns ab, wie wir das Publikum aus seiner Komfortzone herauskitzeln. Es kann ja nicht jeder so verrückt sein wie ich. Ich bin ein Vogel, der fliegt und der sich auch mal vom Sturm mitnehmen lässt.“

Bach und eine Doku über Embryonen

Dass „PatKop“ und der Dirigent Teodor Currentzis eine besonders effektvolle Kombination sind, ist bekannt. Weniger bekannt und extrem anregend ist beispielsweise der Geiger Pekka Kuusisto. In diesem Herbst gab der ein Konzert in der altehrwürdigen Londoner Wigmore Hall, für das er Musik von Bach mit Vorträgen über Krebsforschung kombinierte. In Frühjahr folgt die nächste Dosis Bach, die Goldberg-Variationen, und dazu Fotos und Videos aus einer BBC-Doku über menschliche Embryonen. „Fantastisch…!“, findet Kopatchinskaja. Bei der Erwähnung solcher Experimente am offenen Publikumsherzen glänzen ihre Augen noch abenteuergieriger als ohnehin schon, wenn die Rede auf den Umgang mit Musik kommt.

Ihr langjähriger Duo-Partner Markus Hinterhäuser, mit dem sie gern Galina Ustwolskajas Klangeruptionen auf ihr Publikum loslässt, ist inzwischen immerhin Intendant der Salzburger Festspiele. Solche gewagten Personalien haben Folgen. Auch Kopatchinskaja hatte mittlerweile Gelegenheit, sich als Programm-Designerin zu präsentieren. Im Sommer war sie Music Director beim ebenso kleinen wie familiären Festival im kalifornischen Städtchen Ojai. „Die Leute erwarteten dort von uns, dass wir das Allerneueste spielten!“ Bei einer Beethoven-Performance, erzählt sie glücklich, kam der interessante Zwischenruf: „Lassen Sie doch den Beethoven in Ruhe, spielen Sie einfach Neue Musik!“ Verkehrte Welt. Genau so liebt sie es. „Es ist furchtbar langweilig, immer das selbe zu spielen.“

Aktuelle CD: Schubert „Death And The Maiden“ (Alpha, ca. 15 Euro). Diese CD mit dem Saint Paul Chamber Orchestra erhielt als „Beste Kammermusikeinspielung 2018“ einen Grammy.

Videos:

Ein Porträt-Video vom Lucerne Festival

Ojai Festival 2018.

Und: Der Mitschnitt von „Krieg & Chips“ mit der Camerata Bern.

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