Hamburg. Sopranistin Sarah Maria Sun glänzte mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen in der Elbphilharmonie.

Kurzfristige Absagen hat kein Veranstalter gern auf der Mailbox. Erst recht nicht, wenn eine Uraufführung auf dem Spiel steht. Einen Ersatz zu finden, der das Stück kennt, ist nahezu ausgeschlossen; dass jemand den Notentext noch auf die Schnelle lernt, eher unwahrscheinlich.

Es sei denn, man hat einen Joker wie Sarah Maria Sun in der Hinterhand. Die deutsche Koloratursopranistin, Spezialistin für Neue Musik und bekennender Herausforderungsjunkie, hatte gerade mal zwei Tage Zeit, um sich den Solopart von Peter Ruzickas gut halbstündiger „Mnemosyne“ drauf zu schaffen – und vertrat die erkrankte Kollegin Anna Prohaska beim Konzert mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen in der Elbphilharmonie so souverän, als wäre ihr die Musik persönlich auf den Leib geschrieben.

Traumwandlerische Sicherheit

Mit der traumwandlerischen Sicherheit und Eleganz einer Seiltänzerin bewältigte die Sängerin – im pinkfarbenen Rock und schwarzem Oberteil auch optisch eine Sensation – die Vokalakrobatik des Stücks. Ruzicka führt die Stimme in seiner Hölderlin-Vertonung für Sopran, 18 Streicher und Schlagzeug mit weit ausgreifenden Schritten in schwindelerregende Höhen.

Doch bei Sarah Maria Sun klang das nie nach Angstschweiß und kraftraubender Turnübung, sondern immer wunderbar leicht und mühelos. Mit klarem, hellem Ton hob sie die Gesetze der musikalischen Schwerkraft auf, und schwebte bis in die dreigestrichene Oktave, um dann im nächsten Moment ins warme Brustregister abzutauchen und den poetischen Zauber von Hölderlins Texten sprechend zu erkunden.

Virtuosität im Dienst der Musik

Die Sängerin stellte ihre Virtuosität ganz in den Dienst der Musik, mit der Peter Ruzicka der verrätselten Botschaft der Dichtung nachspürt. Er begreift Hölderlins Hymne an die Göttin Mnemosyne als dunkle Beschwörung von Vergänglichkeit und Ewigkeit – und bettet den Text in eine Klangsprache der Kontraste. Passagen von zittriger Erregung, deren Tremoli und Motivsplitter sich zu explosiven Energiefeldern verdichten und in Attacken des Schlagwerks entladen, treffen auf Inseln der Ruhe und Melancholie: wenn etwa die Sopranstimme am Ende mit einer verträumten Vokalise textlos, aber ausdrucksvoll das Gefühl einer romantischen Sehnsucht aufscheinen lässt.

Ruzicka selbst stand am Pult und lenkte das Orchester und die Solistin mit sicherer Hand, aber ohne spürbare Regung. Wie – zumindest äußerlich – teilnahmslos der 68-jährige Komponist, Intendant und Dirigent die teilweise hochexpressive Musik verwaltete, ist zwar nichts Neues, aber schon erstaunlich. Doch es spricht für die hohe Eigenmotivation der Kammerphilharmonie, dass sie sich vom temperamentfreien Dirigat emanzipierte und den Raum von sich aus mit Leben und Leidenschaft füllte, nicht nur beim Ruzicka-Stück.

Vorzügliche Holzbläser

In der Orchesterbearbeitung von Schuberts f-Moll-Klavierfantasie zettelten die vorzüglichen Holzbläser des Orchesters einen Dialog mit den Streicherkollegen an, der von brüchiger Heiterkeit und Liebesschmerz erzählte; in der Kammerbearbeitung der vierten Sinfonie von Gustav Mahler, nach der Pause, war es vor allem der Konzertmeister Florian Donderer, der mit seinem reich differenzierten Spiel die Impulse gab.

Im lustvollen Teamwork entlarvte das Kammerorchester die doppelbödige Ironie, die Mahler hinter der Maske des Frohsinns offenbart, genoss die Schwärmerei im langsamen Satz, und nutzte dabei die transparente Akustik des Saals für viele dynamische Nuancen.

Schillerndes Timbre

Als Sarah Maria Sun für das Finale noch einmal dazu kam und das „himm­lische Leben“ besang, wählte sie zunächst ein etwas schillerndes Timbre und verschmolz deshalb nicht ganz so mühelos mit dem Orchester wie noch vor der Pause. Doch am Schluss berührte sie auch hier wieder mit jenem anmutigen, ganz schlichten Ton, der wie ein Hauch von überirdischer Schönheit durch den Raum weht und den Hörer mitten ins Herz trifft.