Hamburg. Elf Jahre Gedächtnisverlust: die solide deutschsprachige Erstaufführung „4000 Tage“ am St. Pauli Theater.

Michael liegt im Koma. Seit drei Wochen, nach einem Blut­gerinnsel im Gehirn, die Ärzte wissen nicht, wie lange der Zustand anhalten wird, aber seine Mutter Carol und sein Lebensgefährte Paul wachen am Krankenbett. Und überschütten sich gegenseitig mit Antipathie. Bis Michael aufwacht, äußerlich der alte, nur mit großen Gedächtnislücken. Konkret fehlen seiner Erinnerung 4000 Tage: die elf Jahre, die er mit Paul zusammen war …

Böse Dialogkomödie, dann Beziehungsdrama

Peter Quilters „4000 Tage“ führt einen mit Lust auf eine falsche Fährte. Das im Januar 2016 am Londoner Park Theatre uraufgeführte Well-made-Play beginnt als böse Dialogkomödie, um dann eine radikale Wendung zum Beziehungsdrama zu machen. Auch die von Ulrich Waller am St. Pauli Theater inszenierte deutschsprachige Erstaufführung täuscht zunächst als Lachnummer an und lässt dann das auf Boulevard ­gestimmte Publikum ein wenig im ­Regen stehen – immerhin, der Intensität des Gezeigten tut das gut, auch wenn man hin und wieder das Gefühl hat, dass die Darsteller dem Affen gerne noch länger Zucker gegeben hätten.

Wöhler mit großartiger Solonummer

Gustav Peter Wöhler als Paul etwa hat eine großartige Solonummer, in der er ein Sandwich zunächst aus der Tüte und dann aus der Plastikverpackung zu ­holen versucht, ohne die Hand seines Partners loszulassen. Das ist Slapstick auf zurückhaltende, unspektakuläre Weise, und wie sicher Waller das inszeniert, ist mindestens so eindrucksvoll wie die Umsetzung Wöhlers.

Das Stück aber braucht den Bruch, braucht das Erwachen Michaels, das ­Boris Aljinovic anrührend spielt, mit flackerndem Blick, bebenden Lippen und verzweifeltem Lächeln. So anrührend, dass er damit Judy Winter als Carol an die Wand spielt. Die ist nämlich hier immer noch die giftsprühende Schabracke vom Beginn, obwohl Quilter den Tonfall von der zynischen Tragikomödie zur stillen Tragödie gewechselt hat.

Gewisse Konzentrationsschwierigkeiten

Was für gewisse Konzentrationsschwierigkeiten sorgt, die sich aber bis zur Pause gelegt haben, sodass die eigentlichen Themen angegangen werden können: Waren ­Michael und Paul eigentlich glücklich? Hat Michael einst seine Leidenschaft für die Malerei aufgegeben und einen Bürojob angenommen, weil Paul das als seriöse Lebensplanung von seinem Partner erwartet? Und steckt hinter der aufopfernden Mutterliebe Carols Panik vor der Einsamkeit des Alters? Das sind große Fragen, und es spricht für „4000 Tage“, dass sie nicht letztgültig beantwortet werden können.

Unaufgeregte Inszenierung von Ulrich Waller

Was ist freier Wille, was normale Charakterentwicklung, was Manipulation? Und was macht eine Beziehung mit einem? „Ich hatte mich in einen faszinierenden jungen Mann verliebt“, erinnert sich Paul, um dann entgeistert festzustellen: „Und den habe ich im Lauf der Jahre plattgemacht.“ Wöhler hat hier eine undankbare Rolle, die er ­bewundernswert ausfüllt: den Spießer, der im Stück blass bleibt, nicht weil der Schauspieler langweilig spielt, sondern weil er als Figur langweilig ist. Als Figur, die zwischen der Exaltiertheit von Winters Carol und der ehrlichen Verzweiflung von Aljinovics Michael nachvollziehbar zerrieben wird.

Bühnenbildlegende Wilfried Minks hat hierfür ein realistisches Krankenzimmer mit Ausblick auf Hafenlandschaft gebaut, wobei dieser Ausblick nach der Pause durch ein großformatiges Wandgemälde ersetzt wird: Michael hat wieder begonnen zu malen, ein expressives Farbwunder, das einerseits die neu entdeckte Lebensfreude symbolisiert, andererseits einen Ausweg aus dem verfahrenen Mutter-Sohn-Partner-Dreieck andeutet.

Beschädigte, verletzte Figuren

Gleichwohl, eine für alle Beteiligten befriedigende Lösung wird es nicht ­geben, jemand muss am Ende alleine bleiben, und auch wenn „4000 Tage“ mit dem Prinzip Happy End spielt: Allzu happy kann es hier nicht zugehen, dafür ist das Stück zu ehrlich, zu geschickt konstruiert. Es sind beschädigte, verletzte Figuren, die einen fiesen Spruch wie Carols „Von all den Dingen, die du vergessen hast, ist es nicht das Schlechteste, dass du ihn vergessen hast!“ nicht so leicht wegstecken.

Dass man Michael, Paul und Carol eigentlich weiter zusehen möchte, wie sie ihr Leben holprig auf die Reihe ­bekommen, das spricht für dieses Stück, das spricht aber auch für die Leistung der drei Darsteller. Und es spricht nicht zuletzt für die solide, unaufgeregte ­Inszenierung Wallers, die dem Stück den Raum gibt, stilistisch, inhaltlich und emotional Haken zu schlagen.

Termine: 30., 31. März, 1. bis 9. April,
St. Pauli Theater, Spielbudenplatz 29–30. Karten (17,70–47,40 Euro) in der Abendblatt-Geschäftsstelle und unter T. 30 30 98 98