Hamburg. Die Hamburger Stiftung Kulturglück hat mit Fachleuten eine Führung entwickelt, bei der Erkrankte über die Werke ins Gespräch kommen.

Die graue Skulptur ist kaum größer als eine Blumenvase und in einer Ecke der Ausstellung platziert. Es gibt auffälligere Arbeiten in der Hamburger Kunsthalle, etwa die goldumrahmten Gemälde in der Sammlung Alte Meister. Doch Kunstvermittlerin Ute Klapschuweit ist ganz bewusst hier stehen geblieben und postiert sich neben dem Werk. „Wer mag denn mal anfangen?“, fragt sie.

Auf Klappstühlen vor ihr sitzen neun Besucher, die an Demenz erkrankt sind. Die Jüngste ist 57, der Älteste 78 Jahre alt. Begleitet von Mitarbeitern der Hamburger Alzheimer-Gesellschaft nehmen sie an einer speziellen Führung teil. „Licht im Dunkeln – Kunst für Menschen mit Demenz“ heißt das Projekt, das die Hamburger Stiftung Kulturglück mit Fachleuten entwickelt hat.

Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich die Details

„Na?“ Klapschuweit lächelt. Die Teilnehmer schweigen. Doch ihre Blicke wandern über die Skulptur. Zu sehen ist das Bildnis einer Frau mit geschlossenen Augen und leicht gebeugtem Kopf. Sie hält ein schlafendes Baby an der Brust. „Mutter und Kind“ heißt das Werk, das der deutsche Bildhauer Wilhelm Lehmbruck (1881–1919) schuf.

Auf den ersten Blick scheint es, als habe der Künstler den Stein nur grob modelliert. Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich immer mehr Details an der Skulptur – etwa im Antlitz der Mutter: Kerben, Gruben und glatte Flächen erzeugen im Zusammenspiel einen Ausdruck in ihrem Gesicht, der sich je nach Perspektive, von der Seite oder von vorn betrachtet, anders interpretieren lässt. „Die Mutter sieht traurig aus“, sagt Werner, der rechts von dem Werk sitzt. Zustimmendes Gemurmel aus der Gruppe. „Aber das Baby wirkt so glücklich, wie es sich an sie kuschelt“, sagt Walter, der mittig sitzt. „Man überlegt, warum sie traurig guckt.“

Am Rand der Gruppe sitzt Anja Grosse, auch sie ist Kunstvermittlerin. Grosse soll die Teilnehmer beobachten, dabei helfen, ein Gespräch in Gang zu bringen. „Ich finde auch, dass die Mutter eher traurig wirkt“, sagt sie. „Aaach, jetzt kommt auch Anja damit“, stöhnt Walter. Leises Gelächter.

„Vielleicht“, wirft Konrad ein, „ist die Mutter besorgt, irgendetwas macht ihr zu schaffen.“ Grosse nimmt das auf: „Hat eine Mutter mit einem so kleinen Kind nicht immer Sorgen?“, fragt sie. „Wer von euch hat Kinder?“ Fünf aus der Gruppe heben die Hand. „Sorgen sich eure Kinder manchmal um euch?“ – „Ja“, murmeln einige. Und sprechen dann über Telefonate mit ihren Ange­hörigen und darüber, dass es schön ist, wenn jemand an sie denkt, sich um sie kümmert.

Es soll kein Unterricht sein, keine Wissensabfrage

Kurz darauf diskutiert die Gruppe wieder über die Skulptur, streitet beinahe, bis Ute Klapschuweit lachend einwirft: „Es ist doch gut, dass Walter das anders sieht, das wollen wir ihm nicht nehmen.“

In Hamburg leben nach Schätzungen rund 26.000 Menschen mit mittelschwerer oder schwerer Demenz, etwa zwei Drittel davon zu Hause. Bis 2025 könnte sich die Zahl auf mehr als 30.000 erhöhen. Das hat mit dem ­demografischen Wandel zu tun: Die Menschen werden immer älter – damit erhöht sich das Risiko, an Demenz zu erkranken.

Rechnet man Angehörige und Freunde dazu, gehört Demenz in Hamburg für etwa 100.000 Menschen zum Alltag.

Demenziell erkrankte Menschen finden sich in ihrem Leben zunehmend schlechter zurecht; sie verlieren ihre Orientierung, ihre Erinnerungen, ihre Selbstständigkeit. Dennoch können sie noch an vielen Aktivitäten teilnehmen, wenn sie Unterstützung bekommen – so wie in der Kunsthalle.

Eine gewöhnliche Führung durch die Ausstellung, in der mehr als 700 Werke ständig zu sehen sind, würde Besucher mit Demenz allerdings überfordern. Deshalb gehen Anja Grosse und Ute Klapschuweit gemächlich vor, beschränken sich meist auf drei bis vier Kunstwerke.

Es soll kein Unterricht sein, keine Wissensabfrage; es soll nichts geschehen, was entmutigen könnte. Vielmehr gehe es wie im künstlerischen Prozess selbst „immer um die direkte Erfahrung, den ersten Gedanken, egal ob er Sinn macht oder nicht“, sagt Anja Grosse. „Das hat etwas Anarchistisches, das mir große Freude bereitet.“ Den Teilnehmern geht es ähnlich, wie sie später erzählen werden.

Dabei müsse nicht unbedingt immer eine Diskussion stattfinden, sagt Grosse. „Es kommt in Führungen auch vor, dass wir zusammen still vor einem Bild sitzen und den Moment genießen und es nicht unangenehm ist, dass niemand etwas sagt, sondern friedlich.“

Begonnen hatten die Führungen als Pilotprojekt mit drei Altenpflegeeinrichtungen in Hamburg sowie der Alzheimer-Gesellschaft, Pflegen und Wohnen und der Medical School Hamburg. Nun sollen die Rundgänge regelmäßig stattfinden. Normalerweise kostet eine einstündige Gruppenführung in der Kunsthalle pro Person vier Euro zuzüglich Eintritt. Für die Teilnehmer des Angebots der Stiftung Kulturglück sind die Führungen kostenlos; sie zahlen ermäßigten Eintritt. Bei dem ersten Besuch einer Gruppe ist auch der Eintritt frei.

In Kürze soll das Angebot auf der Internetseite des Museumsdienstes Hamburg zu finden sein, und es ist in Planung, dass es dort auch direkt buchbar sein wird. Zunächst können sich Angehörige und Betreuer von Menschen mit Demenz aber an die Stiftung Kulturglück wenden (siehe Infokasten). Spätestens im Herbst soll es einmal im Monat ein offenes Angebot für Menschen mit Demenz geben. Außerdem planen Grosse und Klapschuweit eine Art Workshop mit praktischer Arbeit, nur im Atelier.

Zum Dank verschenkt die Gruppe Tee und Schokolade

Ob die Auseinandersetzung mit Kunst den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen kann, ist unklar. „Mir genügt es, zu wissen, dass die Teilnehmer in der Kunsthalle einen schöne Zeit erleben“, sagt Anja Grosse. „Scheinbar denken sie zwischendurch nicht daran, dass sie krank sind und wie ihr Alltag ansonsten verläuft.“

Grosse hofft, dass die Führungen auch eine Außenwirkung entfalten. „Für Museumsbesucher, das Personal der Kunsthalle und uns Museumspädagoginnen wird der Umgang mit Menschen mit Demenz und damit mit Menschen, die nicht in gewohnter Weise funktionieren, zu etwas Erfreulichem, Bereicherndem“, sagt sie. „Anstelle von Angst vor Ungewöhnlichem tritt Spaß an dieser Begegnung.“

Zum Dank für die Führung schenkt die Gruppe von der Alzheimer-Gesellschaft den beiden Museumspädagoginnen Tee und Schokolade. Zu den Kunstwerken haben die Teilnehmer zwar unterschiedliche Ansichten – in einem Punkt sind sie sich jedoch einig: „Wir kommen wieder.“