Hamburg . Weshalb der Regisseur Hamburg verlassen will und was an deutschen Theatern derzeit schiefgeht, erzählt Luk Perceval im Interview.

Manchmal ist es am Theater fast wie im richtigen Leben: Erst kommt die „Liebe“, dann geht es doch ums „Geld“. Wenn am Sonnabend der zweite Teil seiner „Trilogie meiner Familie“ am Thalia Theater Hamburg-Premiere feiert (die Uraufführung von „Geld“ nach einem Stoff von Èmile Zola fand bereits bei der Ruhrtriennale statt), ist das für Luk Perceval auch ein Anlass zurückzuschauen.

Auf 18 Jahre deutsches Stadttheater zum Beispiel; mit der legendären neunstündigen Theaterüberforderung „Schlachten!“ wurde der Antwerpener berühmt, seit der Spielzeit 2009/2010 ist Perceval Leitender Regisseur am Thalia Theater. Das aber möchte er nicht bleiben. Ein Gespräch über das Ende der Ensemblekultur, Zukunftspläne und das hiesige Publikum – mit einem Theatermacher, der die Bühne nach wie vor liebt, dem es zuletzt aber zu oft ums Geld ging.

Die Trilogie sei ein Wendepunkt Ihrer Arbeit, haben Sie gesagt, so wie es der Marathon „Schlachten!“ 1999 am Schauspielhaus war. ­Inwiefern?

Luk Perceval: Es ist eine Art Abschiedsprojekt. Übernächste Spielzeit verlasse ich das Thalia Theater und gehe nach Brüssel. Nach rund 18 Jahren am deutschen Stadttheater verabschiede ich mich von diesem System.

Warum?

Das deutsche Stadttheater ist nicht unbedingt das Ziel meines Lebens. Ich bin noch immer auf der Suche und möchte auf der Suche bleiben. Ich habe ganz einfach Lust auf neue Luft, neue Herausforderungen, auch eine Sehnsucht nach der flämischen Theaterkultur, aus der ich komme. Brüssel ist ein Mischmasch an Kulturen, ich finde es spannend, was Theater dort womöglich ausrichten kann. In Deutschland läuft sich das System fest, indem immer mehr gespart wird, immer mehr auf Zuschauerzahlen geachtet wird.

Auch in Brüssel brauchen Sie natürlich Zuschauer.

Natürlich. Aber nicht unbedingt jeden Abend 700, damit das Theater nicht pleitegeht. Das macht einen Unterschied, und das schafft mir Freiheit.

Der Stoff von Émile Zola, mit dem Sie sich nun beschäftigen, ist aus dem 19. Jahrhundert. Was erzählt er über unsere Zeit?

Sehr viel. Wir untersuchen vor allem die Frage nach dem Glück. Womit ist das Glück des Menschen verbunden? Die Menschen haben damals eine Gesellschaft und ein Wirtschaftssystem entwickelt, die bis heute Folgen haben. Das Fundament des gesamten Nahostkonflikts wird zu jener Zeit gelegt. In einer Art Geldrausch wurde versucht, alles zu kolonialisieren, was zu kolonialisieren war. Nordafrika, den Nahen Osten. Émile Zola etabliert in seinen Romanen bereits das, was auch Pier Paolo Pasolini später gesagt hat: Kapitalismus ist Pornografie. Er beschreibt, wie der Reichtum des einen auf Kosten des anderen geht. Und er beschreibt den Beginn der Industrialisierung. Das passte gut zum Spielort der Ruhrtriennale mit seinen Hochöfen, wo das Stück ja seine Uraufführung hatte.

Ändern Sie etwas zur Hamburger Premiere? Die Voraussetzungen sind hier ja andere als im Ruhrgebiet, vor allem gibt es eine Stadttheater-Bühne, aber auch ein anderes Publikum, andere Themen.

Klar ist hier weniger Trostlosigkeit als im Ruhrgebiet. Aber der wirtschaftliche Druck liegt ja auch in Hamburg nicht nur am Theater. Der wirtschaftliche Rhythmus versklavt den Menschen. Überall. Der Bühnenort ist am Thalia natürlich ein anderer. Das Bühnenbild wird angepasst, die Dynamik bleibt.

Konflikte haben mit Geld zu tun

Verstehen Sie diese Inszenierung und die gesamte Trilogie – nach „Liebe“ und „Geld“ soll in der kommenden Spielzeit noch „Hunger“ folgen – auch inhaltlich als Wendepunkt?

Ich versuche, stark zu bündeln und zu betonen, woran ich glaube, wie schon bei „Schlachten!“. Und das ist vor allem auch das Ensemble. Ich entwickle drei Jahre lang ein Projekt mit denselben elf Schauspielern – das lohnt sich! Man spricht mehr und mehr die gleiche Bühnensprache, vertieft sich gemeinsam im Stoff. Die Ensemblekultur war ein Hauptgrund, warum ich damals nach Deutschland gekommen bin. Ich sehe sie aber gefährdet. Kultur muss immer mehr zur Eventkultur werden.

„Die Welt ist Geld“, steht auf dem Thalia-Plakat. Das klingt geradezu deprimierend deutlich ...

Die Oberfläche unserer Beziehungen wird durch das Geld bestimmt. Alles, was wir heute an Konflikten haben, hat mit Geld zu tun. Wir leben aber gleichzeitig in einer Zeit, in der die Menschen auf der Suche nach Alternativen zum Geld sind. Die Welt ist nicht nur Geld. Das Leben ist auch noch etwas anderes.

Die Hamburger Theatersaison hat mit „Wut/Rage“, „Hysteria“ und mit „Erschlagt die Armen“ sehr politisch begonnen. Rennt man beim aufgeklärten Publikum nicht im Grunde offene Türen ein?

Ja, das ist so. Man predigt immer zur eigenen Kirche, das finde ich auch so frustrierend am Stadttheater. Das Stadttheater überlebt durch Abonnenten und eingeweihte Zuschauer, die eigentlich schon einverstanden sind. Deshalb interessiert mich auch eine Stadt wie Brüssel, in der ich das Theaterpublikum erst entwickeln muss.

Theaterpublikum wird immer älter

Ist das Hamburger Publikum eher bequem oder besonders neugierig?

Nun ja. Kultur genießt man ja erst durch Initiation. Ganz viele Leute lesen kein Buch, gehen nicht ins Theater, gehen nicht ins Museum. Man hat also ein Publikum, das sich immer in den gleichen Kreisen bewegt. Es ist sehr schwierig, zum Beispiel Flüchtlinge zu erreichen, wenn die vor ihrer Flucht nicht ins Theater gegangen sind. Und für das deutsche Publikum mit seiner tief verwurzelten Theatertradition generell fällt mir auf, dass am Theater – und zwar mehr als bei anderen Kunstformen – sehr viel Nostalgie herrscht. Man erwartet „Klassiker klassisch“ – und wenn man nachfragt, was genau gemeint ist, hört man oft eine Klischeevorstellung.

Dazu kommt, dass das Theaterpublikum, genau wie die Gesellschaft als ganze, immer älter wird. Das heißt, da ist sowieso die Tendenz zu einem reaktionären Verhalten: Früher war alles besser. Auch die Leute, die ins Theater gehen, denken: Früher war alles besser! Wir leben in einer konservativen, nostalgischen Zeit. Man sieht es ja auch am Wahlverhalten der Leute. Die große Schwierigkeit liegt nun darin: Wie bekomme ich Leute ins Theater, die sonst nicht kommen? In den Schulen wird kaum noch gesungen, der Kunstunterricht wird marginalisiert. Hauptsache, die Menschen sind effizient. Benutzbar. Einsetzbar. Ihre seelischen Entwicklungsmöglichkeiten müssen sie irgendwie selbst organisieren. Da liegt auch eine große politische Verantwortung. Aber die Stadt hat nicht mehr Geld.

Sind Sie ein bisschen desillusioniert von Deutschland?

Nein, überhaupt nicht. Ich lebe sehr gern hier, wirklich. Ich finde Hamburg eine ganz tolle Stadt! Und ich finde es schade, dass Angela Merkel in Europa so oft demoralisiert wird. Ich finde Deutschland ein gelungenes Beispiel für common sense. Es gibt zum Beispiel kaum eine Küstenlinie, die so von Gemeinsinn und gesundem Menschen­stand geprägt ist, wie die deutsche. Wenn man das mit England oder mit Belgien vergleicht, merkt man, dass man sich in Deutschland anders Gedanken macht. Von Deutschland bin ich also nicht enttäuscht ...

Aber ...?

... aber vom deutschen Theatersystem. Weil ich hier überall sehe, dass die Kunst, also der Schauspieler, nur noch dazu da ist, die Logistik aufrechtzuerhalten. Und nicht, dass das System da ist, um die Kunst zu schützen, in ihrer kritischen, fragenden Haltung. Kunst muss nicht unbedingt erfolgreich sein, sie muss hinterfragen. Das darf und kann sie in Deutschland aber immer weniger.

Geld ab 1.10. (Premiere), Thalia Theater, Alstertor (U/S Jungfernsteig),
7,50 bis 74,- Euro;
www.thalia-theater.de