Hamburg. Das Reeperbahn Festival ist ein einzigartiges Erlebnis – auch weil es bei allem Trubel wirklich nur um die Musik geht.
„Schsch!“, „Pssst!“, „Hallo, Ruhää!“ – wenn man etwas auf dem Reeeperbahn Festival nicht erwartet, dann das Bitten um Stille. Schließlich steht der viertägige Musikmarathon zwischen Millerntor und Nobistor für Trubel mit Tönen, für Lautstärkeknöpfe am Mischpult, die hochgeschoben werden wie Schubregler im Flugzeug beim Durchstarten. Für die Vermengung von Kiezalltag aus Martinshörnern, Koberer-Geflüster und FC-St.-Pauli-Gesängen mit dem Grundrauschen des Festivals.
Beim Auftritt des Londoner Soul-Songwriters Jake Isaac im Terrace Hill hoch oben im Feldstraßenbunker aber verstummen Gespräche und Flaschengeklirr für einen Moment. Die Band hält inne, Jake Isaac zwängt sich mitten in den vollen Saal und singt ohne Mikro mit seiner samtigen, an Seal erinnernden Stimme. Atemholen. Und dann gibt er den Funk frei mit dem fantastischen Song „Long Road“.
„Nimms mir nicht übel, wenn ich diese lange Straße entlanggehe“, singt Isaac stellvertretend für alle, die an diesen Tagen Hamburgs lange Straße des Vergnügens entlanggehen, um in Mojo Club und Kukuun, Docks und Molotow, Große Freiheit 36 und Gruenspan sowie ungezählten weiteren Clubs, Theatern und Bars reinzuschauen, was die internationale Newcomer-Szene, angetreten mit über 380 Bands aus Ländern von Mali bis Estland, zu bieten hat.
Viel zu viel, natürlich. Ein Konzert zu sehen, heißt gleichzeitig 20 zu verpassen. Dann darf man sich nicht ärgern, wenn man Freunden begegnet, die ein grandioses Konzert der englischen New-Wave-Pioniere Gang Of Four im Uebel & Gefährlich erlebt haben. Dafür freut man sich, zu den wenigen zu gehören, die der goldenen Yorkshire-Kehle der Folk- und Country-Chanteuse Holly Macve im Molotow lauschen. Sie ist zu recht für den Anchor, den dieses Jahr erstmalig verliehenen Nachwuchspreis des Reeperbahn Festivals, nominiert.
Zwischen den Clubs trifft man viele bekannte Gesichter
Natürlich begegnet man auch bekannteren Namen auf den Bühnen und auf der Straße. Joy Denalane tritt im Docks auf, R’n’B-Star Craig David spielt im Mojo Club, und OK Kid geben ein spontanes Gratiskonzert bei der Fahrraddisco vor dem Knust. Clueso und Viva Con Agua eröffnen eine Open-Air-Galerie mit Bildern zu den Songs seines kommenden Albums „Neuanfang“. Und zwischen Feldstraße und Spielbudenplatz herrscht großes „Fressentreffen“, wie man es in der Popbranche nennt. Smudo, Tonbandgerät, Pohlmann, alle da. Wacken-Chef Holger Hübner schnappt einem das Taxi weg. Sängerin Louane aus Frankreich, mit dem Song „Avenir“ 2015 auf Platz drei in den deutschen Charts, kauft sich als Souvenir einen Pauli-Pulli und gibt vor ihrem Konzert im Docks Autogramme.
Aber ob man nun zum Rocken oder zum Netzwerken über den Kiez bummelt, am Ende geht es nur um Musik. Mit den Jahren gewinnt man bei anderen Festivals, sei es Dockville in Hamburg oder Lollapalooza in Berlin, den Eindruck, dass das Feiern des eigenen Lifestyles im Mittelpunkt steht und die Musik zum Soundtrack dafür degradiert wurde: Flitter und Schminke, aufwendig abgestimmte Outfits, immer mehr Modestrecken Marke „Festival-Look: Styling-Tipps und Ideen“ oder „Nageldesign für das Coachella-Festival“ in Magazinen wie „Glamour“ oder „InTouch“, sogar in der „Für Sie“.
Beim Reeperbahn Festival hingegen kommt man sogar im kleinen Bieranzug – Jeans, Shirt, ausgelatschte Turnschuhe – in Glitzerclubs wie das Moondoo, wo einen SG Lewis aus Liverpool mit seinen dicht gewebten Keyboard-Teppichen förmlich überrollt. Sonst so gestrenge Kiez-Türsteher laden zur „Zeit für Zorn“-Lesung in die Alte Liebe und erzählen lustige Döntjes aus ihrem nächtlichen Berufsalltag.
Auch das Publikum reagiert auf die eine oder andere Schlange oder Verzögerung geduldig. „Ihr seid so gut zu mir“, ruft Drangsal seinen Zuhörern im gut gefüllten Mojo Club entgegen. Der 23-jährige Pfälzer kämpft bei seinem Auftritt mit technischen Problemen und muss seine Songs einige Male abbrechen. Die Zuhörer zeigen sich gelassen und rühren sich nicht von der Stelle, wissen sie doch um die Qualität des New-Wave-Sounds der deutschen Pophoffnung. Zum Ende hin sitzt der Ton – und der Beifall.
Es geht hin und her, hoch und wieder runter. Straßen, Treppen, Fahrstühle. Vom Sommersalon am Spielbudenplatz zum Bunker an der Feldstraße und wieder zurück zum Molotow am Nobistor. Wie war das noch mit einem Moment der Stille in dieser Tour de Force durch die Hamburger Clubs? Kurzes Innehalten in der St. Pauli Kirche. Abseits des meilenweiten Trubels kann hier den sanften Klängen von Black Oak gelauscht und den müden Beinen im Sitzen Ruhe gegönnt werden. Diskretes Flüstern mit den Sitznachbarn.
Regine Marxen, das sechste Mal beim Reeperbahn Festival, kommt jedes Jahr gerne in die Kirche am Pinnasberg, die, in gelb-blaues Licht gehüllt, zum Konzertsaal wird. „Es ist einfach ein super Resonanzraum.“ Trotzdem geht es bei allem heimeligen Ambiente auch für sie zurück in Richtung Kiez. „Es gibt einfach zu viel zu entdecken.“
Viel zu viel, natürlich. Und das auch an diesem Sonnabend, dem finalen Festivaltag. Es gibt den ganzen Abend lang keine Minute zu verlieren. Also „nimms mir nicht übel, wenn ich diese lange Straße entlang gehe“. Langsam bummeln wir ganz alleine die Reeperbahn nach der Freiheit rauf, hören wir eine recht blonde, recht feine ...
Reeperbahn Festiva
l Sa 24.9., diverse Clubs und Bühnen auf St. Pauli, Tagestickets zu 50,-
an den Tageskassen auf dem Spielbudenplatz (10.00–24.00), www.reeperbahnfestival.com