Wacken. Was war noch mal dieser Hair-Metal? Und wo ist die Kutte? Dass Wacken 2016 gefährlich sein kann, zeigt der Polizeibericht.
Es geht in den Endspurt. Nicht in Rio, wo es auch ein Rockfestival gibt, aber derzeit die Olympioniken das Stadtbild beherrschen. Sondern beim Festival Wacken 2016, dem Hardrock- und Metal-Event in Deutschland schlechthin. Zur Erinnerung: Hier werden die Konzerte live im Internet übertragen. Der deutsch-französische Kultursender Arte wurde seinem Programmauftrag gerecht. Auch auf der Homepage von Wacken sind Live-Shows zu sehen.
Hier ist der Wacken-Blog des Abendblatts
Es bleibt schwierig. Bevor die Bekloppten von Steel Panther anfangen, ihre möglicherweise ironisch gemeinte Version des Hair-Metal der 80er-Jahre in die Welt zu pusten, wollten wir ja eigentlich noch mal zurück zum Camp, etwas Siesta halten. Das fällt aus, weil unser Berlin-Import laut eigenen Worten "noch nicht so gewöhnt" an das Tragen einer Kutte ist und sie prompt liegen gelassen hat. Also Hin- und Her-Weg. Man kriegt ja auch sonst so selten Bewegung auf diesem Festival. Um einem guten Freund (Hallo, Viktor!) die Lieblings-Formulierung zu klauen: Es bleibt schwierig. Die Kutte der Dame war übrigens schon ungefähr 30 Sekunden nach unserem Abmarsch gesichert worden. Aber das nur nebenbei.
Schweres Geläuf in Wacken
Zurück auf dem eigentlichen Festival-Gelände fällt uns vor allem eines auf: Das Geläuf ist schwerer, sobald man die asphaltierten Straßen verlässt und sich einmal mehr in den Schoß des Holy Wacken Land begibt. Die Sonne scheint von oben, der Modder matscht von unten. Und irgendwie passt das so auch. Metal Church sind zwar weit entfernt von musikalischem Erweckungserlebnis. Aber das stört nicht weiter, denn: Wacken! Sonne! Tralala! Warum gibt es nie etwas Wind, etwas Sonne und etwas Wolken von Wacken-Anfang an? Das wäre ganz genau perfekt.
Polizei bittet Tagesgäste: Kommt mit der Bahn
Die Polizei meldet: Wacken ist zu. Nicht das Festival, sondern der Ort selbst. Wegen des gewaltigen Zustroms von Tagesgästen seien alle Parkflächen belegt. Besucher sollten die Shuttlebusse vom Bahnhof Itzehoe nutzen. Es werde radikal abgeschleppt, weil auch schon Rettungswege blockiert seien.
Hangover Wacken in Glutenfrei und ungetoastet
Ein kurzer Blick aufs Programm ließ uns nach rituellen Waschungen und Stärkungen feststellen, dass die Bands noch einige Stunden lang maximal mittelinteressant sind. Also machen wir einen Spaziergang ins Dorf und nutzen die gute Gelegenheit, um gleich noch mehr Nahrung in die Körper zu transferieren.
Bei "Hangover Wacken" gibt es alles auch in Glutenfrei - und ungetoastet, wie wir merken, nachdem das Clubsandwich da ist. Aber: Wir sitzen bequem in einem Vorgarten, die cleveren Wackener Geschäftsleute sind sehr freundlich und mit genügend Mayo ist sowieso alles lecker. Weiter geht's: Im Wacken-Laden herrscht das übliche Wacken-Chaos und in jedem zweiten (ungelogen!) Vorgarten kann man irgendetwas kaufen, im Zweifel Bier.
Das dezent überflüssige Apostroph an den diversen Imbissen und Bars ist man auch als Wortarbeiter geneigt zu übersehen. Ischa Wacken, ne? Außerdem scheint die Sonne und man bekommt Würstchen geschenkt, das gibt der Laune nur noch mehr Schwung.
Wacken im Polizeibericht
"Ein von viel Musik, von Ausgelassenheit aber auch von viel Alkohol geprägtes Event." So fasst die Polizei das nach eigenen Angaben größte Heavy Metal Festival der Welt in Wacken zusammen. Die Einsatzkräfte vor Ort haben an diesem Wochenende alle Hände voll zu tun, auch wenn die bisherigen Vorfälle in Anbetracht der Besuchermassen und des damit verbundenen Alkoholkonsums noch "gut hinnehmbar" seien, wie die Polizei mitteilt.
Mann verliert halbes Ohr bei Böller-Explosion
Zu einem tragischen Unglück kam es jedoch am Freitagmittag auf dem Campingplatz. Offenbar hatten ein 51-Jähriger und sein 50-jähriger Begleiter versucht, eine Feuerwerksrakete aus einer Flasche heraus zu starten. Als die Rakete nach dem Anzünden umfiel und die beiden sie wieder aufstellen wollten, explodierte diese.
Einem der beiden Männer wurde dabei ein halbes Ohr abgerissen. Beide erlitten Brand- und Schnittverletzungen und wurden mit einem Rettungshubschrauber in Kliniken nach Kiel und Hamburg geflogen. Laut Polizei handelte sich bei der Rakete um einen sogenannten Polenböller mit besonders großer Sprengkraft. In der Wohnung der Betroffenen stellten die Beamten weitere Feuerwerkskörper dieser Art sicher. Den beiden Männern droht nun eine Anzeige wegen Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz.
Haschkekse im Wackinger Village
Darüber hinaus verzeichnete die Polizei am Freitag insgesamt 15 Drogenfunde, darunter vor allem Marihuana. Zudem wurde gegen einen 53-Jährigen Standbetreiber und seinen 25-jährigen Sohn ein Strafverfahren eingeleitet. Die beiden hatten offenbar an ihrem Stand auf dem Wackinger Village Haschkekse verkauft. Die Polizei stellte 80 Kekse sicher. Zudem registrierte die Polizei am Freitag 30 gemeldete Zeltdiebstähle. Die Gesamtzahl der Diebstähle liege aber bislang unter dem Vorjahresniveau.
Wacken 2016: Die Reportage von Alexander Josefowicz
Der rundliche junge Mann mit dem Stirnband und der Kutte heult. Wie ein Schlosshund. Er schlägt die Hände vor das bärtige Gesicht, die Tränen fließen. Denn alle sind da, und trotzdem fehlt einer. Es ist kurz vor Mitternacht am Donnerstag, Iron Maiden haben gerade einen furiosen Auftritt hingelegt. Nun stehen auf der Bühne einsame Verstärkertürme, über ihnen schwebt eine Flugzeug-Silhouette aus Stahlrohr und Scheinwerfern. Und aus den Boxen tönt zum allerletzen Mal in Wacken - Motörhead. Lemmy Kilmister, der am 28. Dezember 2015, kurz nach seinem 70. Geburtstag, endgültig abgetreten ist, wird verabschiedet.
Der musikalische Nachruf auf die Ikone des Metal, er ist eine gelungene, eine rührende, aber nicht kitschige Veranstaltung. Eine Viertelstunde lang flimmern Bilder von Lemmy über die Leinwände. Das Bassgewitter des „Rickenbastard“, wie Lemmy sein Instrument nannte, donnert durch die Gehörgänge. Dann: Ruhe. Mikkey Dee und Phil Campbell, die verbliebenen zwei Drittel von Motörhead, kommen auf die Bühne, holen den Bandmanager dazu und die langjährige Roadcrew. Ein Rock- ’n’-Roll-Familientreffen, doch das Oberhaupt des Clans fehlt. Zusammen lassen sie Lemmy noch einmal hochleben, seine Musik, sein Leben, seine Fans. Man solle lieber feiern als trauern, das würde Lemmy gefallen, sagt Mikkey Dee. Zu „Lemmy“- und „Motörhead“-Stimmchören verlassen sie die Bühne.
Motörhead ist nicht mehr. Aber die Erinnerung an Lemmy, die wird bleiben.
Bleiben werden auch die beiden Gestalten in orange-farbenen Regenoveralls, die man später vor der Bühne bei Blue Öyster Cult antrifft. Liegend, schlafend. Vermutlich, bis sie irgendwann von den Securitys aus dem Zelt gekehrt werden. Ein weiteres Faszinosum dieses an Kuriositäten nicht armen Festivals ist der Umgang der Fans miteinander und vor allem mit den von Alkohol, Müdigkeit oder einer Kombination aus beidem übermannten Kumpanen. Fünf Meter weiter übt sich eine Kleingruppe im Pogo, niemand stolpert über die Schläfer. Man achtet aufeinander, auch wenn das Duo sich keinen dämlicheren Platz für ein Nickerchen hätte aussuchen können.
Meteorologische Kapriolen
Es liegt fest in Morpheus’ Armen, nicht einmal der Überhit von Blue Öyster Cult, die etwas stoisch, aber technisch präzise ihr Repertoire ausbreiten, „(Don’t Fear) The Reaper“, vermag sie aus dem Schlaf zu reißen.
Ein Konzert verschlafen? Das steht völlig außer Frage für die vier Herren von Overthrust. Sie sind aber auch zum ersten Mal in Wacken, in Deutschland, in Europa. Die Old-School-Death-Metaller kommen aus Botswana und sind angetan vom Trip in den Norden. Der ursprüngliche Plan, einen Gig auf Kampnagel beim Internationalen Sommerfest (Mi, 17.8., 22 Uhr, Karten zu 10 Euro im VVK) zu spielen, erweiterte sich schnell: Inzwischen haben Vulture Thrust und Band-Kollegen vier Auftritte in Deutschland, einen davon in Wacken. In der Zeit davor und danach steht das auf dem Plan, was bei allen auf dem Plan steht: Bands anschauen und es sich gut gehen lassen.
Die Ignoranz gegenüber meteorologischen Kapriolen, die zum Standard-Rüstzeug des Wacken-Besuchers zählt, haben Overthrust schon verinnerlicht. Langer Ledermantel und hohe Stiefel sind ohnehin Teil ihres bevorzugten Konzert-Outfits, da schreckt einen der eine oder andere Schauer nicht.
"In Mud We trust"
„In Mud We Trust” steht auf den weniger stabilen Wacken-Ponchos, die immer wieder hektisch hervorgekramt werden. Dem Modder kann man trauen. Er wartet garantiert hinter der nächsten Ecke. Weswegen der Profi-Wacken-Gänger die direkten Wege zu den Bühnen meidet und sein mit einigem Geld- und Zeitaufwand entwickeltes Lager lieber abseits des zu einer braunen, knöchelhohen Pampe verquirlten Hauptstraßen aufbaut.
Eine Gruppe Bayern hat zusammengeschmissen und ein altes Feuerwehrauto gekauft. Oben drauf: eine Dachterrasse mit Sofas, unten lässt sich eine Pfanne im Esstisch-Format ausziehen, auf der morgens Rührei brutzelt. Die Pumpe und den Löschwassertank haben sie dringelassen, „als Dusche“. Andere bauen Wagenburgen aus Wohnwagen oder haben Pavillons in Zeltfestdimensionen. Nachteil des Luxus: Die Motivation sinkt, sich hinauszuwagen und auch mal eine unbekanntere Band anzuschauen.
Die selbstgezimmerte Musicbox
Bestes Beispiel für metallische Lethargie sind die beiden Jungs mit den Sesseln und der selbstgezimmerten Musicbox inklusive eingebautem Getränkespender. Sie sitzen gefühlt 24 Stunden am Tag am Wegesrand und sehen zufrieden aus.
Wie wohl der verheulte Motörhead-Fan wohnt? Egal ob Nobelherberge oder Iglu-Zelt, eins ist sicher: Er wird sich die Tränen abwischen und wieder lächeln. Zusammen mit 75.000 anderen Metallern. Metal sorgt für gute Laune, allem bösartigen Anschein zum Trotz. Wie es Overthrust-Frontmann Vulture Thrust beschreibt: „Alle sind freundlich, alle heißen uns willkommen. Genau, wie man es von Metallern erwartet.”