Wacken. Ein an Kuriositäten nicht armes Festival: Musikalischer Nachruf auf Lemmy Kilmister, die Ikone des Metal.
Der rundliche junge Mann mit dem Stirnband und der Kutte heult. Wie ein Schlosshund. Er schlägt die Hände vor das bärtige Gesicht, die Tränen fließen. Denn alle sind da, und trotzdem fehlt einer. Es ist kurz vor Mitternacht am Donnerstag, Iron Maiden haben gerade einen furiosen Auftritt hingelegt. Nun stehen auf der Bühne einsame Verstärkertürme, über ihnen schwebt eine Flugzeug-Silhouette aus Stahlrohr und Scheinwerfern. Und aus den Boxen tönt zum allerletzen Mal in Wacken - Motörhead. Lemmy Kilmister, der am 28. Dezember 2015, kurz nach seinem 70. Geburtstag, endgültig abgetreten ist, wird verabschiedet.
Der musikalische Nachruf auf die Ikone des Metal, er ist eine gelungene, eine rührende, aber nicht kitschige Veranstaltung. Eine Viertelstunde lang flimmern Bilder von Lemmy über die Leinwände. Das Bassgewitter des „Rickenbastard“, wie Lemmy sein Instrument nannte, donnert durch die Gehörgänge. Dann: Ruhe. Mikkey Dee und Phil Campbell, die verbliebenen zwei Drittel von Motörhead, kommen auf die Bühne, holen den Bandmanager dazu und die langjährige Roadcrew. Ein Rock- ’n’-Roll-Familientreffen, doch das Oberhaupt des Clans fehlt. Zusammen lassen sie Lemmy noch einmal hochleben, seine Musik, sein Leben, seine Fans. Man solle lieber feiern als trauern, das würde Lemmy gefallen, sagt Mikkey Dee. Zu „Lemmy“- und „Motörhead“-Stimmchören verlassen sie die Bühne.
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Motörhead ist nicht mehr. Aber die Erinnerung an Lemmy, die wird bleiben.
Bleiben werden auch die beiden Gestalten in orange-farbenen Regenoveralls, die man später vor der Bühne bei Blue Öyster Cult antrifft. Liegend, schlafend. Vermutlich, bis sie irgendwann von den Securitys aus dem Zelt gekehrt werden. Ein weiteres Faszinosum dieses an Kuriositäten nicht armen Festivals ist der Umgang der Fans miteinander und vor allem mit den von Alkohol, Müdigkeit oder einer Kombination aus beidem übermannten Kumpanen. Fünf Meter weiter übt sich eine Kleingruppe im Pogo, niemand stolpert über die Schläfer. Man achtet aufeinander, auch wenn das Duo sich keinen dämlicheren Platz für ein Nickerchen hätte aussuchen können. Es liegt fest in Morpheus’ Armen, nicht einmal der Überhit von Blue Öyster Cult, die etwas stoisch, aber technisch präzise ihr Repertoire ausbreiten, „(Don’t Fear) The Reaper“, vermag sie aus dem Schlaf zu reißen.
Ein Konzert verschlafen? Das steht völlig außer Frage für die vier Herren von Overthrust. Sie sind aber auch zum ersten Mal in Wacken, in Deutschland, in Europa. Die Old-School-Death-Metaller kommen aus Botswana und sind angetan vom Trip in den Norden. Der ursprüngliche Plan, einen Gig auf Kampnagel beim Internationalen Sommerfest (Mi, 17.8., 22 Uhr, Karten zu 10 Euro im VVK) zu spielen, erweiterte sich schnell: Inzwischen haben Vulture Thrust und Band-Kollegen vier Auftritte in Deutschland, einen davon in Wacken. In der Zeit davor und danach steht das auf dem Plan, was bei allen auf dem Plan steht: Bands anschauen und es sich gut gehen lassen.
Die Ignoranz gegenüber meteorologischen Kapriolen, die zum Standard-Rüstzeug des Wacken-Besuchers zählt, haben Overthrust schon verinnerlicht. Langer Ledermantel und hohe Stiefel sind ohnehin Teil ihres bevorzugten Konzert-Outfits, da schreckt einen der eine oder andere Schauer nicht.
„In Mud We Trust” steht auf den weniger stabilen Wacken-Ponchos, die immer wieder hektisch hervorgekramt werden. Dem Modder kann man trauen. Er wartet garantiert hinter der nächsten Ecke. Weswegen der Profi-Wacken-Gänger die direkten Wege zu den Bühnen meidet und sein mit einigem Geld- und Zeitaufwand entwickeltes Lager lieber abseits des zu einer braunen, knöchelhohen Pampe verquirlten Hauptstraßen aufbaut. Eine Gruppe Bayern hat zusammengeschmissen und ein altes Feuerwehrauto gekauft. Oben drauf: eine Dachterrasse mit Sofas, unten lässt sich eine Pfanne im Esstisch-Format ausziehen, auf der morgens Rührei brutzelt. Die Pumpe und den Löschwassertank haben sie dringelassen, „als Dusche“. Andere bauen Wagenburgen aus Wohnwagen oder haben Pavillons in Zeltfestdimensionen. Nachteil des Luxus: Die Motivation sinkt, sich hinauszuwagen und auch mal eine unbekanntere Band anzuschauen. Bestes Beispiel für metallische Lethargie sind die beiden Jungs mit den Sesseln und der selbst gezimmerten Musicbox inklusive eingebautem Getränkespender. Sie sitzen gefühlt 24 Stunden am Tag am Wegesrand und sehen zufrieden aus.
Wie wohl der verheulte Motörhead-Fan wohnt? Egal ob Nobelherberge oder Iglu-Zelt, eins ist sicher: Er wird sich die Tränen abwischen und wieder lächeln. Zusammen mit 75.000 anderen Metallern. Metal sorgt für gute Laune, allem bösartigen Anschein zum Trotz. Wie es Overthrust-Frontmann Vulture Thrust beschreibt: „Alle sind freundlich, alle heißen uns willkommen. Genau, wie man es von Metallern erwartet.”