Hamburg. Der Pianist Igor Levit gab Rzewskis Variationszyklus „The People United ...“ als Musikfest-Konzert in der Fabrik.
Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch davon nichts. Und wer bei Frederic Rzewskis „The People United Will Never Be Defeated“ nur auf die vielen, vielen Noten hört, überhört so das Wichtigste, weil es nicht direkt, Schwarz auf Weiß, in diesen Notenmassen geschrieben steht. Diese Auseinandersetzung mit dem Material beginnt vor dem ersten Ton und sie endet nicht nach dem letzten, und sie ist alles andere als einfach, weil sie mit Moral und Politik und Kunst zu tun hat. Etüden, selbst die schwersten, sind immer noch einfacher als sittliche Reife.
So unspielbar, wie es mit Ehrfurcht im Unterton genannt wird, sei es doch gar nicht, schließlich würde er das ja schon seit Jahren spielen, sagt Igor Levit gern, wenn man ihn auf jene Stunde Musik anspricht, von der weltweit derzeit fast alle die Finger lassen. Fast alle, außer ihm und Rzewski. Dass die Musikfest-Planer Levit und diesen 36-Etappen-Variationszyklus über ein chilenisches Revolutionslied nicht brav in die gediegene Laeiszhalle programmierten, sondern in die Fabrik in Ottensen, war clever und richtig. Und wichtig. Obwohl dieses Viertel seine klassenkämpferischen Zeiten längst viel zu weit hinter sich gelassen hat und solvente Wohnungskäufer mit Zweit-Jaguar und Elbvororte-Stammbaum keine Sensation mehr sind, ist dieser Konzertort mit seiner honorigen Image-Patina ebenso eine Ansage wie der am Ende umjubelte Auftritt selbst. Eine Ansage, die verkündet: Wir können auch anders, immer noch. Immer wieder. Entspannt euch mal lieber nicht zu früh, denn so einfach ist das hier nicht mit der Freiheit und der Kunst (s. rechts).
Dass ein noch nicht mal 30 Jahre junger Pianist über die sittliche Reife und die technischen Fähigkeiten verfügt, sich mit Rzewskis Biest anzulegen, wurde an diesem Konzertabend voll und ganz bestätigt.
So gesehen und gehört, saß ja auch nicht nur ein Igor Levit am Flügel, sondern etliche: Der Virtuose, der damit klarkam, dass manche Passagen über die Tastatur wirbelten wie Liszt auf feinstem Speed. Es gab den dezent angejazzten Entertainer für die verträumten Stellen, in denen Bill Evans mit Schubert gekreuzt wurde. Den Tastenstänzer, der daran erinnerte, wie der Free-Jazz-Berserker Cecil Taylor auf eben dieser Fabrik-Bühne mit bloßen Händen ein Klavier in Brand setzte. Den Fugen-Entknoter, den strengen Formwahrer, den skrjabinesken Sternenstaub-Dompteur. Levit behielt konsequent die Nerven und wichtiger noch: den strukturellen Durchblick, während Rzewskis Stück von ihm verlangte, die Einzelteile des Protestlieds auf immer wieder andere Art und Weise zu atomisieren und so einfallsreich über die Tasten des Flügels zu verteilen, bis etwas Neues entstand, in dem die Vorlage immer noch mitschwang.
Besonders toll wird dieses komplikationsgespickte Stück ja ohnehin erst, sobald man akzeptiert, dass es derartig sauschwer ist. Sobald man über die circensischen Komplikationen hinweg die Substanz hören kann, die handwerkliche Machart weniger wichtig findet als das Ergebnis, auf einen Abenteuerurlaub gehen zu können. Dieses Ziel ist viel wichtiger als die Hoffnung des Interpreten, ohne Krämpfe in allen Fingerknöcheln die letzte Variation zu erreichen, die so verbindlich mit der Ausgangsmelodie endet, als wäre zuvor nichts oberhalb einer Fingerübung passiert.
Bei Levit bestand diese Gefahr des Scheiterns auf Achttausender-Niveau nicht, in keinem Moment. Er vergrub, tändelte, trieb und glühte sich mit bewundernswert leichter Intensität durch die knapp 1200 Takte. Dieser Vorgang, so beeindruckend er auch war, hat gleichzeitig etwas zutiefst Romantisches und Extremes: Für Wettbewerbe dressierte Fleißpianisten, von denen es zu viele gibt, könnten dieses Stück womöglich noch treffsicherer spielen. Doch sie würden es handhaben können, ohne es begriffen zu haben. In diesem Stadium, „The People United ...“ nur als Mutprobe zu missbrauchen, war Levit offenkundig nie gewesen. Und warum er dieses Stück so toll spielte, wie er es spielte, erklärte in der Gesprächsrunde nach getaner Arbeit ein kurzer Satz, mit dem Levit die Haltung von Rzewski ganz einfach zusammenfasste: „Er glaubt an etwas.“