Hamburg. Dirigent Thomas Hengelbrock und seine Frau, die Burgschauspielerin Johanna Wokalek, gaben zum Musikfest zwei gemeinsame Abende.

Einige Felsbrocken, Feuerschalen und ein Ruder für den vom Schicksal ins Geschehen gespülten Fremden. Keine pompösen historischen Kostüme, kein Kulissengeschiebe, kein stundenlanges Affektaufschäumen unter Koloratur-Hochdruck, bis man nicht mehr weiß, wer hier gerade in wen verliebt oder mit wem verwandt ist. Dafür Purcell pur, eine gute Stunde nur: sein Kurz-Drama über Dido, die Königin von Karthago, und Aeneas, den späteren Gründer von Rom, reduziert aufs Notwendigste, optisch unplugged. Aber auch geschmacksverstärkend verfeinert und mit Doppelböden versehen durch musikalische Ergänzungen, Zitate aus Cavallis „Didone“, etwas aus Vergils „Aeneis“ und „Die Bösen liebend“, Nietzsches abgründig raunendem Fragment. Das klingt nach konstruiertem Opern-Oberseminar für Bescheidwisser, die Umsetzung war alles andere.

Im letzten Sommer hatte diese Gourmet-Variation ihre Premiere in der Felsensreitschule der Salzburger Festspiele. Nun, im Rahmen des Musikfests für zwei Abende nach Kampnagel geholt, zeigte sie dem hiesigen Pu­blikum eine hier immer noch zu unbekannte Seite des NDR-Chefdirigenten: die des Opern-Entdeckers, der in der Alten Musik noch selbstverständlicher zu Hause ist als im Repertoire folgender Jahrhunderte. In seiner effektvoll kargen Bearbeitung von Purcells „Dido and Aeneas“ hat Hengelbrock die dunkle Seite der Macht die Gestalt einer bilderbuchbösen, nachtfinsteren Hexe annehmen lassen, verkörpert von seiner Frau Johanna Wokalek. Singen, wie es für diese hochartifizielle Kunstform vorgesehen ist, kann Wokalek eindeutig nicht, machte es als Anti-Dido aber trotzdem gern und mit der Bedeutungsbeschwerung einer Burg-Schauspielerin. Als sie sich bei den Salzburger Festspielen in der Uraufführung Dalbavies „Charlotte Salomon“ die Hauptfigur mit einer Mezzosopranistin geteilt hatte, funktionierte dieser sanfte Verfremdungseffekt bestechend gut, weil die Musik von vornherein so angelegt war. Bei Purcell wirkten diese Szenen zu gut gemeint und daher leicht befremdlich.

Dafür funktionierte die musikalische Umsetzung dieses Konzepts umso bestechender. Vierfünftel-Dunkel in der Kampnagel-Halle, der Eröffnungsmonolog war erzählt, und dann sprengte der erste ruppige Orchester-Einsatz die Grabes-Stille. Keine Phase in diesem Stück, in dem das kleine, von Hengelbrock feinst geleitete Balthasar-Neumann-Ensemble nicht die Hochspannung hielte. Kein Moment in den Chorszenen, in denen die noch großartigeren Sängerinnen und Sänger bei ihrem klug gebauten Stellungsspiel auf der leer gefegten Bühne schwächelten oder wackelten. Kate Lindseys Darstellung der Dido hatte Anmut und Format, Benedict Nelsons Aeneas war etwas zu pauschal.

Ein anspruchsvolles Umdeutungs-Experiment, das nur deswegen so gut gelang, weil der musikdramatische Kern dieser Geschichte unangetastet blieb. Sehr subtil, sehr stimmungsvoll, sehr uneitel virtuos arrangiert war das alles. Es blieb am Ende aber vor allem die zeitlos anrührende Tragödie einer einsamen Frau, die verlassen war und verlassen wurde und im Verdämmern des letzten bisschen Lichts ihre schönste, letzte Arie singen musste.