Berlin. Der Musiker spielt die chilenische Widerstandshymne „The People United Will Never Be Defeated“ von Frederic Rzewski.

Es gibt da dieses YouTube-Video aus Pittsburgh. Der Pianist Igor Levit ruft es so flott auf seinem iPhone auf, als hätte er das schon oft getan. Einer von Frederic Rzewskis Söhnen arbeitete im April 2015 bei Wholey’s Fish Market. Dort also, in einem unscheinbaren Restaurant, saß dieser US-amerikanische Komponist, ein überzeugter Kommunist, und spielte eine Stunde lang „The People United Will Never Be Defeated“, weil ihn der Boss seines Sohns dazu eingeladen hatte. Ein alter, unscheinbarer Mann an einem alten, unscheinbaren Klavier. Vor zwei Handvoll Zuhörern und vermutlich für eine Handvoll Dollar.

Rzewskis Stück ist ein Monster von Variationszyklus, so brachial schwer, dass nur sehr wenige Virtuosen sich in dessen Nähe wagen. Kurz vor dem Ende, wenn das Thema der 40 Jahre alten chilenischen Widerstandskämpfer-Hymne wieder aus den Notenmassen auftaucht, singen einige an den Tischen den spanischen Text zum markigen Marsch-Moll mit. Eine Szene, die umhaut, auch auf dem kleinen Bildschirm. Die Kraft der Musik. Die Kraft von Moral, die Größe von großer Kunst. So ist das. Und danach: stehende Ovationen bei Wholey’s Fish Market für einen Avantgarde-Pianisten, der Musik von Stockhausen uraufgeführt hatte und mit John Cage befreundet war.

„Beinahe alles, was sich in mir in den letzten zehn Jahren geformt hat, ist zu einem großen Teil so gekommen, weil er in mein Leben kam“, sagt Levit ehrfürchtig über Rzewski. „Als ich ihm geschrieben habe, war ich 16. Ihn getroffen zu haben und mit ihm zu kommunizieren ist mit das Schönste und Wichtigste, das mir je passiert ist.“

Auf die Aufwärm-Frage, welchen Komponistennamen er sich tätowieren lassen würde, hatte Levit gekontert: „Wahrscheinlich keinen. Vielleicht Sinatras ,Only the lonely‘. Das ist gut.“ Und dann grinste er kurz und breit.

Wir sind im Soho House, Hipster-Hochburg in Berlin-Mitte. Levit wohnt ganz in der Nähe und ist regelmäßig hier, wegen der Sportmöglichkeiten. Der noch jüngere Levit hatte gut 30 Kilo mehr auf den Rippen gehabt. Das mehrsprachige Kreativlings-Gewese und die vielen Mitte-Schauspieler, die durchs Bild flanieren, kann er prima ausblenden, erzählt er. Kürzlich wurde ihm sein Steinway-Flügel per Kran in die Wohnung geliefert. Er taufte das 88-Tasten-Biest „Lulu“, nach der Männerfertigmacherin in Alban Bergs Oper.

Levit ist noch keine 30 Jahre jung, 1987 in Nischni Nowgorod geboren. 2010, drei Wochen vor seinem Konzertexamen in Hannover, schrieb die „FAZ“-Kritikerin Eleonore Büning: „Dieser Mann hat nicht nur das Zeug, einer der großen Pianisten dieses Jahrhunderts zu werden. Er ist es schon.“ Man kann so eine Schippe Vorschusslorbeeren ignorieren, die Bodenhaftung verlieren oder einfach weitermachen. Levit machte weiter, sehr konsequent. „Es hat Zeit gebraucht, um mich davon komplett zu emanzipieren.“

Nach einer Einspielung der späten Beethoven-Sonaten – genau das, wovon Newcomer normalerweise die Finger lassen – folgte ein CD-Dreierpack mit Bachs Goldberg- und Beethovens Diabelli-Variationen, und eben jenem „The People ...“. Dass Levit demnächst beim Hamburger Musikfest mit Rzewskis Stück gastiert, das für ihn zum Markenzeichen wurde, wäre schon fein genug. Dass er es aber nicht in der altehrwürdigen Laeiszhalle, sondern als Gesprächskonzert in der rustikaleren Fa­brik bringt, ist eine der cleversten und schlüssigsten Programmideen des ganzen Festivals. In der New Yorker Ar­mory hatte Levit vor einigen Monaten eine eigenwillige Meditationsübung mit der Performance-Künstlerin Marina Abramovic inszeniert. 500 Menschen in Liegestühlen sahen unter Schallschutz-Kopfhörern und ohne ihre Handys 30 Minuten lang zu, wie Levit und sein Instrument auf einem Podest in Zeitlupe in die Saal-Mitte gefahren wurden. Erst danach begann er, mit Bach. Die Kraft der Musik eben.

Rzewski ist für Levit „ein Mensch, der von seinem Gegenüber eine Haltung erzwingt. Das gilt auch für seine Musik.“ Haltung? Ganz großes Wort. Es geht um Grundsätzliches. „Ich will nicht tolerieren, dass jemand sagt: Ich mache Musik, und das entbindet mich von Verantwortung, weil sie ja so groß ist und alles andere so klein“, erklärt er sich. „Das halte ich für falsch, für beinahe gefährlich. Kann Musik also etwas verbessern? Diese Frage finde ich nur sekundär interessant. Viel wichtiger ist: Was kann der Musiker verändern und besser machen? Haltung? Ich seh doch, was um mich herum passiert. Dazu beziehe ich Stellung.“

Dass ihn ein Journalist wegen seiner Begeisterung für Rzewski fragte, ob bei ihm zu Hause ein Che-Guevara-Poster hänge, bringt ihn kurz auf die Palme. „Als wäre diese Utopie mit dem Militärputsch von 1973 gestorben! Sie ist nicht gestorben! Aber losgelöst von diesem Stück: Ich kann nicht tolerieren, dass jemand sagt: Ist mir egal. Das kann ich nicht.“ Und Rzewskis Stück sei für ihn natürlich auch kein Anschauungsunterricht über den chilenischen Aufstand: „Der Ausgangspunkt ist Ortegas Lied, aber die Wurzel, die Utopie, die ist so alt wie Adam und Eva. Seit den beiden ist das die Utopie: Freiheit. Und sie ist noch am Leben.“

Der amerikanische
Komponist
Frederic Rzewski
Der amerikanische Komponist Frederic Rzewski © nonesuch

Während wir reden, läuft in unseren Telefonen die Meldung über einen iranischen Cembalisten auf, der sich bei einem Konzert in Köln Zwischenrufe anhören musste, er solle seine Stück-Erklärungen gefälligst in Deutsch abgeben. „Ich lebe hier, habe Deutschland sehr viel zu verdanken, und wenn ich sehe, was jetzt hier passiert, ist mir das nicht egal. Es trifft mich wirklich ins Mark. So.“ Sagt Levit und holt wieder nur kurz Luft. „In Frankreich ist es schlimmer? Verrückt. Was ist das für ein Argument?“

Über den chronisch gewordenen Anblick von 20.000 Pegida-Demonstranten, unter denen sich womöglich auch eindeutige Demokratiegegner befinden, kann sich Levit in Rage argumentieren: „Wenn 19.997 Nicht-Nazis da stehen und die mitlaufen, dann sind sie Latenz-Nazis. Dann kann ich sie nicht aus dieser Verantwortung lassen.“

Der steile Karriereverlauf der letzten Zeit hat seinen Terminkalender rasant gefüllt. Neulich erst eine kleine USA-Tournee, hierzulande Beethoven-Sonaten mit der Geigerin Julia Fischer. Auf der gedanklichen Wunschliste stehen die Präludien und Fugen von Schostakowitsch als nächste Zyklus-Langstrecke. Mehr Schubert, nicht nur als Wiener Romantiker für sich genommen, sondern in Verbindung mit sperrigeren Avantgarde-Klassikern wie Hartmann oder Volpe. Außerdem arbeitet Rzewski an einem Stück für Levit. Zu dieser Vielbeschäftigung passt ein Zitat aus T. S. Eliots „Vier Quartetten“, das Levit bei der Frage nach einem Leitmotiv sofort als Essenz seiner Arbeit am Flügel und am Rest des Lebens parat hat: „Wir lassen niemals vom Entdecken, und am Ende ­allen Entdeckens langen wir, wo wir losliefen, an und kennen den Ort zum ersten Mal.“ Nur dass seine Zusammenfassung kürzer und prägnanter ist. „Ich will keine Antwort auf meine Fragen, ich will immer neue Fragen.“ Danach muss er los.

Sobald Levit ein neues Stück für sich entdeckt, hat er es zunächst nur im Kopf, bevor es am Flügel konkret wird. Erst denken, dann spielen. Nicht die dümmste Methode.

Konzert: 16.5., 20 Uhr, Fabrik, Karten (21 Euro) unter T. 35 76 66 66. www.musikfest-hamburg.de