Hamburg. Bei seiner Inszenierung von Rossinis „Guillaume Tell“ an der Staatsoper hat Roger Vontobel den Bogen mächtig überspannt.
„Verkleideter Schweizer Restaurator killt ausländischen Politiker mit Anstreicherpinsel!“ Klingt wie eine extra-irre Boulevard-Schlagzeile aus einem Land mit hohen Bergen und vielen Zwergen, in dem der Journalist Roger Köppel Rechtsaußen-Parlamentarier ist – und war der letzte abstruse Einfall, den der Schweizer Roger Vontobel bei seiner ersten Opernregie-Arbeit auf die Bühne der Hamburgischen Staatsoper stellen durfte.
Niemand hat den durchaus etablierten Sprechtheater-Regisseur daran gehindert und davor bewahrt, am Ende mitsamt seinem Team wütend ausgebuht zu werden. Niemand hat in einer frühen Probenphase korrigierend eingegriffen und ihm diskret eröffnet, dass seine Ideen für Rossinis letztes, enorm schweres Opern-Meisterwerk „Guillaume Tell“ bei allem Verständnis für Anfängerehrgeiz an großen Häusern mehr als sonderbar wirken.
Und so kam es, dass Tell im verunglückten Finale den verhassten Landvogt Gessler nicht mit seinem zweiten Pfeil richtete: Nachdem Tells Sohn Gemmy dem Vater einen Farbeimer reichte, den er „Waffen“ nannte, pinselte der Nationalheld den Besatzer mit Farbe vom Leben zum Tode. Als Strafe auch dafür, dass Gesslers Maschinengewehr-Schwenker (nur echt im unverzichtbaren Mussolini-Schwarz) das Pathos-Panorama „Einmütigkeit“ des Schweizer Nationalkünstlers Ferdinand Hodler übermalt hatten, an dem der greise Pfeifchenschmaucher Tell anfangs hinter einem rot-weißen Schlagbaum gewerkelt hatte. Damit es bald wieder so schön werde wie früher, als die wackeren Kantons-Kerle noch Mittelalterwamse trugen oder mit Taschenlampen riefenstahlesk im Schummrigen herumfunzelten wie ein Pegida-Trupp bei einer Nachtwanderung durch Sachsens Wälder und Gaue.
Also: Habsburger, kommst du nach Helvetien, leg dich bloß nicht mit grauhaarigen Schweizer Restauratoren an. Die singen erst und malen dann.
Schon beim ersten Nacherzählungsversuch trudelt einem das Rezensenten-Hirn. Doch so in etwa war das womöglich gemeint. Und demnächst bei solchen Gelegenheiten ersticht dann – warum eigentlich nicht? – Carmen einfach mal Don José und nicht umgekehrt. Weder Tristan noch Isolde vergingen in „des Weltatems wehendem All“, sondern wagnern einfach weiter, bis zur Stimmbandlähmung. Für die todkranke Mimi in „La Bohème“ gäbe es gegen den fiesen Husten ganz was Feines von Ratiopharm auf Kassenrezept. Und der aus dem Jenseits zurückgekehrte Steinerne Gast im „Don Giovanni“ bliebe Denkmal, während der gemeuchelte Greis Melchthal in Vontobels „Tell“-Karambolage als blutverkrusteter Untoter herumwanken durfte, um seinem Sohn ein Rachemotiv in Altersheim-Latschen zu sein. Denn der Tenor Arnold war zu verknallt in eine Feindin seiner Eidgenossen, um sich diesen frischen Todesfall länger als für die Dauer einer Arie merken zu können.
Steht so nirgendwo, aber: hey, Regietheater! Innerhalb der Leitplanken des Librettos bleiben könnte ja nun jeder. Und wo Vontobel schon mal einen ungebremsten Lauf hatte, flog auch gleich eine große Portion Oper raus aus dieser Oper, als ob mehr als gut drei Netto-Stunden feinster Rossini unzumutbar wären. Vor solchen Einfällen möchte man sich durch Kopfnüsse mit einer dachlattengroßen Toblerone-Keule in die Bewusstlosigkeit retten.
Tells legendären ersten Schuss – den mit der Armbrust auf den Apfel auf des Sohnes Kopf – hatte Vontobel ebenfalls komplett herausinszeniert. Stattdessen schnappte sich ein Habsburger Soldat den Pfeil, spießte damit das Guerilla-Obst auf, wechselte durch Ausziehen seiner Uniformjacke die Seiten und wurde ganz ohne Einbürgerungsformulare zum Ehren-Neu-Schweizer. Und dann war da noch das bei Musical-Ausstattern geborgte Kitschklischee-Konfetti, das im zweiten Akt über das Liebespaar Arnold und Mathilde rieselte. Und rieselte. Und rieselte. Und danach noch ein wenig länger rieselte. Für vieles andere kam dankbarerweise sehr viel Kunstnebel zum Einsatz. Leider nicht für alles.
Wenn also schon keine große Oper, wie versprochen, sondern ziemlich große Konfusion, wurde dann wenigstens großartig gesungen, gespielt und dirigiert? Bedingt. Sergei Leiferkus’ Tell hatte seine besten Jahre hinter sich, hier war vor allem restsolide Bariton-Routine zu hören, aber kein mitreißender Vorkämpfer für das Wahre, Schöne, Gute, Schweizerische.
Damit bewegte er sich in einer Liga mit dem Dirigenten Gabriele Ferro. Nach einigen Anfangswacklern und eher phlegmatisch breiten Tempi kam Ferro zwar im Laufe des Abends auf den Geschmack, ein Maestro zum Merken wurde deswegen aber nicht aus ihm. Die Philharmoniker? Spielten. Aber sie brannten offenkundig nicht für diese Produktion. Das überließen sie lieber den von Eberhard Friedrich organisierten Chormengen, die auch nicht immer ganz in der Spur waren.
Dafür machte, immerhin, die junge Sopranistin Christina Gansch in der kleinen, feinen Hosenrolle des Gemmy ein weiteres Mal auf ihre aufblühende Klasse aufmerksam. Und auch bei Tenor Arnold und Sopran Mathilde hatte das Besetzungsbüro auf angemessene Stimmen gesetzt: Obwohl Yosep Kang nicht immer ganz anstrengungsfrei strahlte und stemmte, zog er in seinen Bann. Noch hörenswerter war Guanqun Yu als Prinzesschen. Sie sang nicht nur prächtig, ihrer Rollengestaltung hörte man auch einen Charakter an, der deutlich mehr war als die vielen Schweizer Rollenklischees um sie herum.
Weitere Aufführungen: 9./12./16./19./22./26.3. Infos: www.staatsoper-hamburg.de