Hamburg. Die Atomkatastrophe von Fukushima als Trauerspiel: Generalmusikdirektor Kent Nagano dirigierte die Uraufführung von Toshio Hosokawas „Stilles Meer“ in der Staatsoper
Alle unwichtigen Noten weglassen, schon hat man eine großartige Oper? Wenn es doch so leicht wäre. Der Japaner Toshio Hosokawa ist einer dieser Kalligraphie-Klang-Komponisten, bei denen die Zeit wie in sich versunken wirken kann, obwohl sie vergeht. Auch diese schwebende Musik, die Hosokawa als erste große Auftragsarbeit der neuen Hamburger Opernchefs Georges Delnon und Kent Nagano schrieb, ist keine Partitur mit Ideen-Überfülle. Sie hat das Temperament einer Teezeremonie und die Lichtdurchlässigkeit von Morgennebel am kalten Strand. Man hört ihr an, wie sehr sie verdichtet wurde. Sie ist sehr präsent und zugleich kaum vorhanden, weil sie wie dünne Firnis über der abstrahierten Handlungsskizze liegt. Selbst ihre totale Abwesenheit als Stille ist kalkulierter Teil ihrer Wirkung.
„Stilles Meer“ ist eine verstörend eindringliche Musiktheater-Meditation
Schmerz als Quersumme aus Zeit und Schicksalsergebenheit, diese metaphysische Formel bildet das Fundament zu „Stilles Meer“, einer verstörend eindringlichen Musiktheater-Meditation über den Mensch und seinen von der Natur zerstörten Traum, die Atomenergie immer und überall im Griff zu haben. Deswegen auch der naturalistische Anfang als kontaminierte Verfremdung des „Rheingold“-Beginns, bei dem man noch nicht ahnen darf, wie katastrophal übel alles endet. Hier jedoch war die Katastrophe schon geschehen. Sanftes postapokalyptisches Wellenrauschen also anstatt der Es-Dur-Akkordwogenbrechungen ist zu hören, bevor archaisch dröhnende Trommelwirbel die Ruhe nach dem Sturm atomisieren. Das Elend beginnt nicht, es geht weiter und weiter.
Trauernde stehen hilflos im Dämmerlicht brennstabförmiger Neonröhren auf der fast leeren Bühne, glimmende Laternen in den Händen, als Symbol der Seelen ihrer Toten. Und am Bühnenrand parkt ein überniedlicher Roboter in den aktuellen „Star Wars“-Trendfarben, dessen Sprachspeicher baldrianfreundlich verkündet: „Sie sind in der Sicherheitszone.“ Doch sicher ist ja weder nichts noch niemand in diesen glühenden Landschaften, die einmal sichere Heimat waren.
Ein Trauerspiel für fünf Personen, von denen zwei bereits Erinnerung sind
Fast fünf Jahre erst ist es her, dass in der Region um Fukushima ein Erdbeben, eine Flutwelle und ein Kraftwerk die Weltmacht Mensch entmachteten. Hosokawa und sein Regisseur und Ideen-Lieferant Orizo Hirata erzählen als tiefenpsychologisch gedachtes Nachbeben dieser Katastrophe ein Requiem für die lebenden Toten, ein Trauerspiel für fünf Personen, von denen zwei bereits Erinnerung sind: Die Deutsche Claudia hat bei der Katastrophe ihren Sohn Max und ihren Mann verloren. Max’ Vater Stephan und ihre Schwägerin Haruko versuchen vergeblich, die Trauernde und die Wirklichkeit zueinander zu bringen.
Die Gedenkzeremonie für die Toten läuft ebenso ins offene Leere wie die Idee, für die irrlichternde Claudia Trost und vorletzte Ruhe in einer Nō-Theater-Anspielung zu finden. An manchen Stellen allerdings übertreiben es Regie und Dramaturgie mit der Kunst des Untertreibens. Das Tun und erst recht das Lassen sind zu abstrakt, um die wenigen Charaktere oberhalb der exzellent singenden Choristen aus ihren Schablonen zu befreien.
Andererseits: Mag sein, dass sich japanischen Zuschauern die Nuancen des Librettos ganz anders erschließen, dass sie vielschichtige Veränderungen erkennen, wo Nicht-Japaner nur Fakten und Gesten registrieren. So gesehen, war eventuell viel mehr in der auf Einzelschicksale konzentrierten Handlung, die sich über gut 90 Minuten oft wie halbgefroren präsentiert.
Der Countertenor Bejun Mehta als Stephan ist sensationell
Die Tiefe der Verbeugungen als Gradmesser des Mitgefühls, die Handhaltungen so wichtig wie in den Prunkopern des Barock, die angeschrägten Ärmel und der schiefe Rocksaum der Hauptdarstellerin kein Zufall? Vielleicht alles enorm wichtig. Womöglich aber auch nicht. Klar ist jedoch: Der Countertenor Bejun Mehta als Stephan ist sensationell. Bei ihm ist keine Note nur eine von allen, seine Gestaltungskraft ist eindringlich und unaufdringlich. Mehta glaubt man sofort alles, seinem Text nur bedingt. Die Koloratursopranistin Susanne Elmark überzeugt stimmlich und darstellerisch, der Mezzo von Mihoko Fujimura fügt sich harmonisch in den Dialog der zerbrochenen Herzen ein.
Naganos detailscharfes Dirigat der Philharmoniker wirkt nach seinem nicht ganz freiwilligen Weggang aus der Münchner Oper auch wie eine klare Ansage an den neugierigen Rest der Branche: Wo ich jetzt bin, soll bald wieder oben sein. Die Zusammenarbeit mit seinem neuen Orchester macht qualitative Fortschritte, das gegenseitige Interesse aneinander bringt neues Leben in eingefahrene Arbeitsabläufe. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, die erste weitgehend geglückte Auftragskomposition bei Weitem keine neue Liebermann-Ära. Und Abräumer mit populärerem Sortiment als die Prestige-Ausnahme Hosokawa bleiben ebenfalls abzuwarten. Doch der Wille zu mehr als bisher ist mit dieser euphorisch gefeierten Konzentrationsübung erkennbarer geworden.
Weitere Termine: 27. / 30.1., 9. / 13.2. Infos: www.staatsoper-hamburg.de