Hamburg. Bei seinem Silvesterkonzert-Debüt in der Laeiszhalle setzte Generalmusikdirektor Kent Nagano auf ein kontrastreiches Programm.

Schluss mit dauerlaunig, „Besinnung statt Besinnlichkeit“ empfiehlt das Programmheft. Einige wenige Buchstaben ändern, und schon ist der Blickwinkel drastisch verändert. Viele klassische Musiker glauben immer noch, dass sie lieber ausschließlich Noten anderer spielen statt auch mit eigenen Worten zu hören sein sollten. Nicht so Generalmusikdirektor Kent Nagano; für ihn ist der erste obligatorische Jahresabschluss-Auftritt in der Laeiszhalle eine ideale Gelegenheit, um als der Immer-noch-Neue auf diesem Posten gesellschaftlich Fundamentales an- und auszusprechen. Um auf feine, aber wichtige Nuancen aufmerksam zu machen, die man beim alltäglichen Drüberweghören verpassen würde.

„2015 war ein kompliziertes Jahr“, sagte er in seiner Begrüßungsrede, „unser Leben wird anders, wir gehen in eine andere Welt.“ Auch wenn diese täglich machbare Erkenntnis eher leicht glückskeksig und nicht brandneu klingt, so unterstrich Naganos Programmatik für das ausverkaufte Konzert am Silvestermorgen doch auch, wie sehr er am letzten Tag eines Jahres andere Akzente setzen will als seine Hamburger Amtsvorgänger und Spezial-Programm-Präger Ingo Metzmacher und Simone Young. Etwas unvorbelastet Neues also am Ende von etwas Altem. Kein schlechter Zug für einen Künstler, der sich vor Ort einmischen will.

Dass die Kombination der sehr deutschen Visionäre Bernd Alois Zimmermann und Johann Sebastian Bach nahe liegt, weil sie über trennende Jahrhunderte hinweg harte Gegensätze vereint, im tiefsten Inneren funktioniert und ein Publikum bewegen kann, hat nicht erst Kent Nagano für dieses Konzert erahnt. Bereits Ende 2012 hatte der NDR-Kollege Thomas Hengelbrock die „Ekklesiastische Aktion“ auf eines seiner Laeiszhallen-Konzertprogramme gesetzt, damals allerdings erklang sie mit dem Beginn der Johannes-Passion und nicht wie hier mit dem Kyrie aus der h-Moll-Messe. Doch auch diese Lektion gelang bravourös, denn Zimmermanns letztes Werk vor seinem Selbstmord 1970 ist von erschütternder Zeitlosigkeit. Von Grenzerfahrungen wird berichtet, von Angst vor Unterdrückung und Einengung und dem „Unfug des freien Verstandes“. „Ich wandte mich um und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“ lautet Zimmermanns Werktitel, er glaubte an die Kugelgestalt der Zeit. 2015 war ein kompliziertes Jahr.

Nachdem die Bachschen Kyrie-Teile historisch interessiert von den Philharmonikern durchleuchtet, aber notentextkritisch nicht allzu streng hinterfragt wurden, begann das Hörspiel-Drama. Zwei Sprecher (die Großschauspieler André Jung und Thomas Thieme, jeder auf seine Weise grandios), ein Bariton (schneidend glasklarscharf: Dietrich Henschel) als Aussinger der Bibelpassagen und die Verknüpfung dieser Worte von Ewigkeitsanspruch mit Szenen aus jenem Kapitel von Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“, in dem Jesus in die Finsternis der Inquisitionszeit geworfen wird. Fern-Posaunen röhrten apokalyptisch von den Laeiszhallen-Rängen in den Saal, eine antik psychedelisch wimmernde E-Gitarre und sehr viel Schlagwerk brachten die Botschaft dieser Musik-Text-Collage unmittelbar - und oft auch unbequem – nah.

Selten war die Stille in diesem Saal so beklemmend, so laut wie in den Momenten, nachdem Zimmermann gebrochen den Bach-Choral „Es ist genug“ zitiert. Mehr Applaus für den ewigen Außenseiter Zimmermann als für den ewigen Publikumsliebling Bach? Einen besseren Beweis für die Richtigkeit seiner bewährten Leitmotiv-Verschränkungen hätten Nagano, der sich gegen Ende des Stücks, den Kopf tief gebeugt, an den Rand des Dirigentenpodests setzte, und sein Dramaturg Dieter Rexroth kaum erleben können.

Seinen Abschluss fand das Konzert mit Mozarts „Linzer Sinfonie“

Die Charakterprägung der ersten Programmhälfte setzte sich nach der Pause mit einer weiteren groß gedachten Symbolhandlung fort: Nagano, funktionsbedingt die ranghöchste Klangkörper-Führungskraft der Hansestadt, räumte das Podest, um es für die Dauer von drei Brahms-Motettensätzen dem Kirchenmusikdirektor von St. Michaelis zu überlassen. Jener Hauptkirche, in der Nagano kurz vor seinem ersten regulären Laeiszhallen-Abo-Konzert dirigiert hatte, um an die langen musikalischen Traditionen Hamburgs zu erinnern.

Als Revanche und Gegenbesuch gastdirigierte nun also Christoph Schoener in der Nachbarschaft. Aber nicht nur irgendetwas brauchbar Schönes von Brahms zur Feier des Tages, sondern die „Fest- und Gedenksprüche“, mit denen sich der blonde Hans aus dem Gängeviertel für die Verleihung der Ehrenbürgerschaft bei seiner Geburtsstadt bedankt hatte. Wieder eine dieser sehr symbolischen Gesten mit Subtext, die dem Konzert eine ganz besondere Prägung gaben.

Dem Chor St. Michaelis war der Respekt vor dieser Aufgabe (außer in manchen Höhenlagen der Frauenstimmen) fast nie anzuhören, die Bibelzitat-Vertonungen überzeugten nicht nur als Raritäten, sondern erzielten auch die gewünschte Wirkung als Seelenmassage für Lokalpatrioten mit Musikgeschichtsbewusstsein.

Und als hätte der junge Mozart es geahnt, wie gut klares C-Dur als optimistische Vorwärtsvertonung in die Zielgerade eines Silvesterkonzerts passt, stand die „Linzer Sinfonie“ als Abschluss an. Theoretisch auch dies eine wunderbar hintersinnige Idee, das Stück als Emblem einer Ära zu nehmen, in der aufgeklärter Bürgersinn und das Abschneiden von hochwohlgeborenen Zöpfen Mode und Maßstab wurden. Aber bei der Umsetzung der Noten in ein Feuerwerk aus Tönen haperte es noch, die Philharmoniker und Nagano lieferten mehr schaumgebremste Pflicht als bravouröse Kür ab. Doch das kann ja noch kommen in 2016 – vermutlich auch kein ganz komplikationsfreies Jahr.