Nagano wollte die Saison der Philharmonischen Konzerte eine knappe Woche vor dem Auftakt an der Staatsoper einläuten – im Michel.

Einmal hatten wir schon miteinander gesprochen. Aber bei diesem ersten Kurzinterview erschien mir Kent Nagano fast noch weniger greifbar, als ich ihn je zuvor bei einem Konzert wahrgenommen hatte. Kein Handschlag zur Begrüßung, eher überprofessionelle Distanz, man könnte auch sagen: Nähevermeidung. An jenem Vormittag trug er einen Anzug aus edlem grauen Tuch und über dem blütenweißen Hemd die weihnachtsbaumgrüne Krawatte, die ich später noch häufiger an ihm bestaunen sollte. Die ganze Erscheinung überaus distinguiert. Ein feiner, feinnerviger Mensch. Und, wie die meisten Leute, die man nur von der Bühne kennt, im wahren Leben kleiner als auf dem Podium.

Wir saßen uns in einem flott zum temporären Abendblatt-TV-Studio umarrangierten Nebenraum der Stifterlounge im vierten Stock der Staatsoper gegenüber. Rechts neben ihm auf dem Sofa, deutlich legerer, Georges Delnon, der neue Intendant. Die erste Saison-Pressekonferenz war gerade vorüber, die beiden Herren hatten ihre jeweiligen Opernregierungserklärungen abgegeben und sagten ihre Kernsätze noch einmal vor der Abendblatt-Kamera ins Mikrofon. Ihnen Persönliches zu entlocken war schwierig. Vor allem Nagano wirkte, als läse er seine Sätze von einem inneren Teleprompter ab.

Das war im April. Dann kam der Sommer, und wie seit Jahrmillionen lief im September zuverlässig alles auf den nächsten Saisonstart zu. Die Oper wollte am 19. September mit „Les Troyens“ von Hector Berlioz beginnen. Aber Kent Nagano ist als Generalmusik­direktor der Stadt nicht nur Chef der Philharmoniker im Orchestergraben, sondern verantwortet auch die Saison der Philharmonischen Konzerte. Die wollte er schon eine knappe Woche vor dem großen Auftakt an der Staatsoper einläuten. Und nicht, wie üblich, mit einem Auftaktkonzert in der Laeiszhalle, sondern in St. Michaelis.

Ausgerechnet im Michel! Weniger orthodox und zugleich sinnfälliger hätte Kent Nagano seine Hamburger Zeit kaum beginnen können. Er hatte ja mit seinem etwas nebulösen Rechercheprojekt nach dem „Hamburger Klang“ schon bei der Saisonvorstellung angekündigt, was ihn in dieser Stadt umtreibt, was ihn womöglich erst hierhergelockt hat: herausfinden, ob es so etwas wie eine hanseatische Musik-Signatur gibt, Identität stiften und eine neue Identifikation zwischen den Bewohnern und ihrer musikalischen Tradition. Ein ehrbarer, gleichwohl etwas weltfremd erscheinender Plan; wer außer Naganos Ratgeber und Ideeneinflüsterer Dieter Rexroth interessiert sich in Hamburg ernstlich für den Hamburger Klassikklang? Und falls doch: Würde er sich ausgerechnet in der Hauptkirche St. Michaelis aufspüren lassen? Schließlich ist der Michel, Wahrzeichen und zumindest gefühlt das spirituelle Zentrum der Stadt, wie nahezu jede Kirche für ihre Akustik eher gefürchtet. Je größer das Ensemble, desto verwaschener der Klang im Raum. Und überhaupt, gilt es hier nicht, „Soli deo gloria“ zu musizieren, einzig zum Lobe des Herrn?

Kent Nagano hatte für sein Unterfangen eigens die „Akademie St. Michaelis“ ins Leben gerufen. Und mit der würde er proben müssen. Anfang September schon, denn vor dem ersten Konzert am 13. September musste er noch einmal zu seinem anderen Hausorchester nach Montréal. Am 26. August wechselte ich ein paar Mails mit dem Pressesprecher des Philharmonischen Staatsorchesters, um den Termin einzutüten. Er sagte mir für den 4. September ein halbstündiges Interview mit Nagano im Büro des GMD zu, am Tag zuvor dürften wir im Michel die letzte halbe Stunde der Probe fotografieren. Und er fragte, ob auch mir als Berichterstatter die Zeit zwischen 16.30 und 17 Uhr zum Zuhören genügen würde. Ich handelte noch eine halbe Stunde extra raus und freute mich, als es dafür grünes Licht gab.

Zwei Tage später wurde massiv zurückgerudert. Probenbesuch am 3. September leider gar nicht möglich, Nagano und das Orchester seien quasi in Klausur, und da dürfe überhaupt niemand zuhören. Fotografieren war weiterhin erlaubt, auch das Interview stand außer Frage. Aber mit Nagano reden, ohne einen ersten atmosphärischen Eindruck von seiner Arbeits­weise und der sich bildenden Chemie zwischen ihm und den Musikern gewonnen zu haben, schien mir wenig ergiebig. Vorab über ihn geschrieben hatten wir im Abendblatt ausführlich, vielleicht mehr als genug. Nun war es an der Zeit, Leben in die statischen Bilder des unergründlich freundlich Unnahbaren zu bringen. Zu hören, wie er mit seinen Musikern redet. Zu spüren, ob und wie sie sich auf ihn einlassen.

Also argumentierte ich mit dem Pressesprecher, bis ich, oh, Wunder, doch ins vermeintlich Allerheiligste vorgelassen wurde: auf die Nordempore, auf der Nagano und die Akademisten der Philharmoniker saßen und bei vollem touristischen Michelbesichtigungsbetrieb Mozart probten. Nagano, in eine Kombi aus sandfarbenem Kaschmirpullover und brauner Cordhose gehüllt, blieb für mich auch hier unerreichbar, aber so war es verabredet. Entsprechend respektvoll Abstand haltend, setzte ich mich in eine der Bänke neben Geigenkästen und von den Musikern abgelegte Jacken, beobachtete die Probenarbeit und hörte auf das Gesprochene, so gut es die Michel-Akustik zuließ. Nagano machte sich den Musikern in einem lustigen Musikeresperanto aus Deutsch, Englisch und italienischen Vortragsbezeichnungen verständlich. „Das war sehr, sehr schön“, lobte er einmal die drei Celli, „this is coming out of the Ruhe now.“ Die Musiker waren nach zehn Jahren Simone Young und etlichen ausländischen Gastdirigenten an solches Idiom gewöhnt. Auch Naganos Phrasierungsbitte „a little more Komma before the zweite Ton“ befolgten sie sofort.

Tags darauf empfing mich Nagano in demselben lang gezogenen GMD-Büro, in dem ich seine Vorgängerin Simone Young wiederholt interviewt hatte. Unter ihrer Intendanz war das ein vibrierendes Arbeitszimmer mit einem großen Schreibtisch gewesen, auf dem sich Bücher und Noten stapelten. Alles deutete auf Eile und ein hohes Parallelpensum an Arbeit hin. Kent Nagano hat sich den Raum vollkommen anders herrichten lassen. Es steht darin nicht viel mehr als der Flügel und eine dunkle Couchgarnitur mit Tisch. Asiatische Ruhe. Ein Raum zum Gesprächeführen. Zur Meditation.

Einmal haben wir seither sogar ein Bier miteinander getrunken. Im Ok­tober zeigte das Filmfest im Metropolis-Kino die Doku über seinen aus Georgien stammenden Lehrer Botso Korisheli. Nagano sah den Film da zum ersten Mal. Anschließend erzählte er dem Publikum von seiner Jugend und diesem außergewöhnlichen Menschen. Das war sehr anrührend. Und überraschend lustig. Und statt danach sofort zu verschwinden, wurde der vermeintlich Unnahbare regelrecht gesellig.