Hamburg/Berlin. Stefan Herheim inszeniert Mozarts „Le Nozze di Figaro“ in Hamburg, in Berlin bringt Jürgen Flimm das Stück auf die Bühne.
1500 große Notenblätter und 3200 kleine Magnete, und dazu die schlichte Erkenntnis, dass absolut alles in der Musik steht. Etwas anderes braucht es an der Staatsoper nicht, um Mozarts knapp 230 Jahre alte Genie-Handschrift zum Leben zu bringen. Bei seinem überfälligen Hamburgdebüt ging Regisseur Stefan Herheim, einer der klügsten Subtexterkenner weit und breit und überall gern gebucht, aber noch einen Schritt weiter. Er stellte nicht nur alles, sondern auch jeden in Mozarts „Le Nozze di Figaro“ mitten in die Musik.
Seine Figuren waren in rokokoeske Notenanzüge gekleidet, ihre Handlungs-Choreografie stand, Akzent für Akzent, in den Autografenkopien, mit denen Christof Hetzer die Bühne blickdicht tapeziert hatte. Eine Kiste, sich nach hinten verengend wie ein Schalltrichter, ein Käfig voller Noten, in dem sich fast jede Wendung dieser Geschichte um Verführung und Vergebung auf beengtem Raum rund um ein Bett abspielte. Schon wie die Video-Animationen während der Ouvertüre für den ersten Szenenapplaus in der Premiere sorgten und zum Finale den niedlichen Rausschmeißer liefern, lohnt den Besuch.
Berlin, Schiller Theater, gleiches Stück, komplett andere Idee. Hier ist es ein dekorativ heruntergekommene Sommerfrische-Strandvilla, in die eine Truppe hormonell übertankter Touristen frohgemut hineinmarschiert und bis zum Happy End fast keine Möglichkeit zum Szenenslapstick mit Abitur auslässt. Der Berliner Staatsopern-Intendant Jürgen Flimm inszenierte den „Figaro“, seinen dritten schon, als klassenkampfbefreite Burleske ums Rein und Raus aus Herzen und Sinnen. Flimm kann so etwas, er kann es allerdings inzwischen auch schon zu sehr, um daraus letztlich mehr als eine leichtgewichtige, dekorative Harmlosigkeit werden zu lassen.
So unterschiedlich die Inszenierungen auch aussehen und durchdacht sein mögen, in keinem der beiden Gräben wird oberhalb von manierlich gespielt. Beide Dirigenten, der italienische Alte-Musik-Spezialist Ottavio Dantone und noch viel mehr der venezolanische Temperamentsbolzen Gustavo Dudamel, hatten ihre liebe Not.
Dantone, der den Hamburger Philharmonikern als historisch informierter Wegweiser Umdenken und Nachdenken beibringen sollte, gab sich zwar viel Mühe. Mit Querköpfen wie René Jacobs oder neuerdings Theodor Currenztis im Hinterkopf wurde es allerdings schwierig, Dantones Dirigat, das immer wieder unverbindlich durchhing statt anzutreiben und vor allem mitzugestalten, für mehr als ein Zeichen guten Willens zu halten, obwohl die Klangjustierung schon erkennbar ehrgeizig war. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Mozart in Hamburg in Idealform, von jetzt auf gleich, nur weil neue Chefs im Haus sind, das wäre dann wohl ein Wunder gewesen.
Dudamel wiederum tändelte konturenarm vor sich hin. Ab der Ouvertüre, eigentlich ein Feuerwerk und kein feucht gewordener Böller, ging es bergab mit dem Interesse an dieser viel zu dezenten Pflichterfüllung. Wäre die Berliner Staatskapelle an sich ein weniger hörenswertes Orchester, man wäre aus dem Haareraufen kaum herauskommen, so lendenlahm, unterbelichtet und biederblass war das.
Und wenn ein Opernhaus wie Hamburg, gerade mit frischem Leitungsteam hochmotiviert am Start, sich nach 25 Dienstjahren mit der letzten Version einen neuen „Figaro“ als zweite Premiere im Großen Haus verordnet, sollten die Stimmen nicht nur derart zweitligasolide sein, wie es hier in tragenden Rollen der Fall war. Wilhelm Schwinghammers Figaro war so robust belastbar, wie man es – als wer auch immer – von ihm gewohnt ist. Nicht weniger, nicht mehr. Die Gräfin von Iulia Maria Dan? Keine Charakterformerin, die in ihren weltstoppenden Auftritten zu Tränen rühren kann, eher eine Wertarbeiterin, die singt, bis sie aufhört. Kartal Karagediks Almaviva? Ausbaufähig, Dorottya Lángs Cherubino ebenso, in diese Hosenrolle muss sie hineinwachsen. Katerina Tretyakovas Susanna entsprach noch am sinnlichsten dem Rollenprofil. So gehört, war diese vom Hamburger Premierenpublikum energisch gefeierte Mozart-Produktion als Ensembleanstrengung ein Schritt in eine richtige Richtung. Aber noch längst nicht über die Zielgerade.
Dagegen war der Flimm-Cast in Berlin ein ganz anderes Kaliber. Dorothea Röschmanns Gräfin war von reifer Charaktertiefe, dass sie gerade erst in Kent Naganos Amtsantritts-Mahler in der Laeiszhalle zu hören war, macht dieses Opernereignis aus hiesiger Sicht nicht besser. Anna Prohaskas liebreizende Susanna tobte mit unwiderstehlicher Energie durchs Bühnenbild. Ildebrando D’Arcangelo ein Graf, dessen knackigen Schmierlappen-Bariton man selbst in der muffigen Akustik des Schiller Theaters nicht überhören konnte. Und Marianne Crebassa, mit einer frühreifen Stimme zum Verknallen, als ein Cherubino, für den das pubertäre Schlüpferstürmen und Damenbedrängen einfach Lebensmittelpunkt sein muss.
„Der ,Figaro‘ ist sowieso das allerbeste je für das Theater erdachte Stück“, hatte Flimm in einem Regie-Erlebnis-Essay als These in den Bühnenraum gestellt. Dass es nicht das allereinfachste ist, ist hier wie in Berlin zu besichtigen und zu hören.
Termine, Mitschnitt und CDs
Weitere Aufführungen:
17. / 20. / 22. / 26. / 29.11., 3.12.,
Hamburgische Staatsoper. Karten zu 5 bis 87 Euro: T. 35 68 68.
26.11., Schiller Theater Berlin. Karten zu 28 bis 88 Euro unter T.
030 / 20 35 45 44. Arte Concert zeigt einen Mitschnitt des Berliner
„Figaro“ unter www.concert.arte.tv.de
CD-Tipps:
Dorothea Röschmann „
Mozart Arias“. Swedish Radio Symphony, Daniel Harding (Sony
Classical). „Le Nozze di Figaro“. Musicaeterna, Theodor Currentzis
(Sony Classical, 2014). Concerto Köln, René Jacobs (harmonia mundi,
2004).