Hamburg . Regisseur Bastian Kraft und Pastor Sieghard Wilm sprechen über „Engel in Amerika“. Das Theaterstück hat am Sonnabend Premiere.

Die 1980er-Jahre waren in vielerlei Hinsicht eine finstere Zeit. In den USA herrscht unter Reagan Kalter Krieg. Es weht ein eisiger Wind in einer Gesellschaft, in der das Wachstumsstreben des Kapitalismus zum angebeteten Goldenen Kalb wird. Das zeigt sich auch im unerbittlichen Umgang mit der Krankheit HIV. In konservativen Kreisen gilt sie als „Schwulenseuche“. Religiöser Fanatismus kommt auf. Homosexuelle werden weltweit stigmatisiert und ausgegrenzt.

Tony Kushner hat 1993 ein preisgekröntes Theaterstück darüber geschrieben: „Engel in Amerika“. Mit 22 Jahren Abstand schaut nun der junge – homosexuelle – Regisseur Bastian Kraft am Thalia Theater darauf.

Vor der Premiere an diesem Sonnabend traf er mit Sieghard Wilm, Pastor der St.-Pauli-Kirche, und ebenfalls offen homosexuell, im Teeraum des Theaters zu einem Gespräch über die Aktualität des Stoffes zusammen – zwei, die sich trotz unterschiedlicher Blickwinkel auf Anhieb verstehen. „Es ist ein Missverständnis, dass die Aids-Krise das Hauptthema sei. Am Beispiel der Krise stellt der Autor Fragen an das Zeitalter“, sagt Kraft. „Viele von ihnen sind heute genauso unbeantwortet oder haben sich verschärft. Mehr denn je leben wir in einer Welt,, die nicht genau weiß, nach welchen Zielen und Werten sie sich ausrichten soll.“

„Aids-Krise macht Brüchigkeit menschlicher Beziehungen sichtbar“

Das Stück, von Kushner als „schwule Phantasie über nationale Themen“ untertitelt, verfolgt mehrere Handlungsstränge. Ein homosexuelles Paar zerbricht an der Krankheit Aids. Ein Anwalt mit tablettensüchtiger Frau trifft sich heimlich mit Männern. Und ein Topanwalt und Schwulenhasser leugnet erst seine Neigung, dann seine Erkrankung und muss sich im Angesicht eines schwarzen Pflegers auch seinem Rassismus stellen. Hinzu kommen engelhafte Traumgestalten, die angesichts von Sinn- und Gottlosigkeit die nahe Apokalypse beschwören.

„Für mich macht die Aids-Krise hier die Brüchigkeit menschlicher Beziehungen sichtbar“, sagt Pastor Sieghard Wilm. „Wir erleben Menschen, die Solidaritäten aufkündigen, Bindungen, die nicht halten. Es wird viel gelogen. Alles zerbröselt. Dann kommt es aber auch zu einer neuen Solidarität. Engel treten auf. Auch der Pfleger Belize ist eine Engelsgestalt.“ Die Krise ist exemplarisch, die Geschichte universell.

Wilm entdeckt Affinität zwischen Homosexualität und Religion

Der Protestantismus hat keine einheitliche Position zur Homosexualität. Unterschiede finden sich auch in jüdischen Gemeinden. „Noch immer ist Schwuchtel das meist gebrauchte Schimpfwort auf den Schulhöfen“, erzählt Wilm. Anders als Kraft, der als Sohn zweier Ärzte aus einem liberalen bürgerlichen Elternhaus stammt, hat Wilm als Jugendlicher in einer ländlichen Dorfgemeinschaft im Norden Ausgrenzung erfahren und auch mit seinem Glauben gerungen. „Es gibt viele positive Beispiele, aber mancherorts ist die Hemmschwelle immer noch unheimlich hoch. Quer durch alle Schichten“, sagt er. „Man lügt sich so durch.“

Das Coming Out vergleicht er mit dem Auszug aus Ägypten ins gelobte Land im Alten Testament. „Die Lüge ist ein bequemer Zustand. Man muss die Fleischtöpfe verlassen und durch die Wüste, wo Rettung naht.“ Durch die Wüste müssen auch die Figuren im Stück, bevor sie hoffen dürfen und neue Beziehungen möglich werden.

In Frankreich gehen Menschen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe auf die Straße, in Stuttgart gegen ein Erweitern der heterosexuellen Norm um andere Formen des Zusammenlebens in Schulbüchern. „Das wird viel zu oft als übergriffig dargestellt“, sagt Bastian Kraft. „Dabei sucht man sich das ja nicht aus. Für junge Menschen ist es besonders schlimm, wenn sie das Gefühl haben, sie seien die Einzigen. Alles erzählt ihnen eine andere Geschichte.“ Aus seiner Glaubenskrise wuchsen Pastor Wilm neue Gewissheiten. „Gottes Fantasie ist zu verdanken, dass es Vielfalt gibt.“ In dem Stück entdeckt er eine Affinität zwischen Homosexualität und Religion. „In der Ablehnung steckt so viel Energie. Das hat eine starke Magie. Es geht ja um religiöse Erscheinung und Erlösung. Da ist Musik drin.“

Wie die Botschaft der Engel heute ausfällt, wird sich am Sonnabend auch auf der Bühne zeigen.

„Engel in Amerika“ Premiere Sa 17.10., 20.00, Thalia Theater, Alstertor, Karten 15 bis 74 Euro unter T 32 81 44 44; www.thalia-theater.de