Hamburg . Unter dem Titel „ Die große Utopie“ feiert das Museum für Kunst und Gewerbe die Ära als künstlerischen und gesellschaftlichen Aufbruch.
Man muss sich das vorstellen: Da fährt der Direktor eines Hamburger Museums zur weltgrößten Ausstellung nach Paris, auf der er sich nicht etwa nur umschauen, sondern auch kräftig einkaufen soll. 100.000 Goldmark, damals ein enormes Vermögen, hatte Justus Brinckmann, der Gründungsdirektor des Museums für Kunst und Gewerbe, beim Senat für Ankäufe beantragt, als er im Mai 1900 in Hamburg den Zug bestieg, um die Pariser Weltausstellung zu besuchen.
Dort sah er nicht nur enorme technische Innovationen wie „rollende Bürgersteige“, elektrisch betriebene Maschinen und bewegte Filmbilder, sondern vor allem Möbel, Gebrauchswaren und Luxusgüter in einer völlig neuen Formsprache. Die Mittel müssten sofort freigegeben werden, bevor die besten Stücke schon anderweitig verkauft seien, schrieb Justus Brinckmann ungeduldig an Senatssyndikus Werner von Melle, der am 21. Mai endlich die Freigabe der Summe aus dem „Budget für unvorhergesehene Ausgaben“ durchsetzte.
Nun langte der Museumschef kräftig zu und kaufte die modernsten Möbel, Keramiken, Glasgegenstände, Schmuckstücke, Plakate, Teppiche, Bucheinbände und sogar ganze Raumensembles wie den berühmten „Pariser Saal“. Zum ersten Mal überhaupt erwarb Brinckmann jetzt nicht mehr historische Kunstobjekte, sondern angewandte Kunst der Gegenwart, jene Kunstrichtung also, die in Deutschland unter dem Begriff Jugendstil in die Kunstgeschichte eingegangen ist.
Kunst als Reaktion auf die Dynamik der Zeit
„Jugendstil. Die große Utopie“, heißt das doppelte Ausstellungsprojekt, das ab kommenden Sonnabend im Museum für Kunst und Gewerbe gezeigt wird. Dabei geht es einerseits um die vollständige Neupräsentation eben jener von Justus Brinckmann um 1900 begründeten höchst bedeutsamen Jugendstil-Sammlung des Hauses, zusätzlich aber auch um eine Sonderausstellung, in der die faszinierende Ära, die der Kunsthistoriker Richard Hamann als „Stilkunst um 1900“ bezeichnet hat, ideengeschichtlich erklärt wird.
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erlebten die Menschen einen enormen Umbruch, der sowohl verheißungsvoll, als auch bedrohlich empfunden werden konnte. Die industrielle Revolution hatte mit der Einführung der Fabrikarbeit die Produktivität enorm gesteigert, zugleich aber die gesellschaftlichen Widersprüche verschärft. Im Jahr 1867 erschien in dem Hamburger Verlag Otto Meissner „Das Kapital“, in dem Karl Marx die gesellschaftlichen Verhältnisse analysierte und fundamental kritisierte. Neue Erfindungen wie die Elektrizität oder die Röntgenstrahlen wirkten sich ganz unmittelbar auf das Leben der Menschen aus.
Die Kunst, die damals entstand, reagierte auf ganz unterschiedliche Weise auf die Dynamik jener Zeit. Auf nahezu allen Gebieten wurde nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Statt der standardisierten Massenware, die oft von minderer Qualität war, bemühten sich Künstler nun um hochwertige Produkte, die die Lebensqualität der Menschen, für die sie bestimmt waren, erhöhen sollten. Einerseits besann man sich dabei der alten Handwerkstechniken, etwa im Buchdruck, und sehnte sich in einer Art retrospektiver Utopie in die verklärte Vergangenheit zurück. Andererseits suchte man ganz neue Formen, die völlig ohne historische Vorbilder auskamen und sich vielfach an floralen Linien orientierten.
Von Bildern über merkwürdige Apparate zu Filmszenen
Bei den Objekten, mit denen Kuratorin Leonie Beiersdorf diese Entwicklung in der Sonderausstellung unter dem Begriff Reformbewegung vor Augen führt, handelt es sich zum Beispiel um Bilder, wie den „Bretonischen Knaben“ von Paul Gauguin und den „Knieenden Mädchenakt vor blauem Vorhang“ von Paula Modersohn-Becker, in denen die Sehnsucht nach paradiesischer Ursprünglichkeit zum Ausdruck kommt.
Aber es geht auch um so merkwürdige Apparate wie das 1911 hergestellte „Hygienische Ganzkörperlichtbad Solar“, das mit Glühlampen ausgestattet war. Es sollte zivilisations- geschädigte Stadtmenschen mit Licht und Wärme auch an jenen Körperstellen heilen, die üblicherweise von Bekleidung bedeckt waren. Kleider in fließenden Formen stehen zugleich für die Befreiung des Körpers von einengenden Modekonventionen. Als höchste Form gesellschaftlicher Emanzipation wurde außerdem die Nacktheit propagiert, was Filmsequenzen von nackten Tänzern in idyllischer Natur zeigen.
Während die Sonderausstellung also den Geist jener Zeit mit einer erstaunlichen Vielzahl von Spielarten ausbreitet, geht es in der neugestalteten Jugendstil-Sammlung um die konkreten Konsequenzen für Formgebung und Design. Dabei zeichnet die dafür zuständige Kuratorin Claudia Banz den von Justus Brinckmann vollzogenen Konzeptwechsel von der historischen Vorbildsammlung zum zeitgenössischen Sammlermuseum nach. Er bemühe sich, „eine Auswahl vom Besten unserer Zeit zu erstehen“, hatte Brinckmann gesagt, und nicht nur in Paris, sondern zum Beispiel auch in Wien gekauft.
Pariser Saal als Höhepunkt
Gerade an den Tisch- und Tafelobjekten der 1903 gegründeten Wiener Werkstätte zeigt sich einerseits die enorme gestalterische Vielfalt des Jugendstils, der eben nicht nur fließende und florale, sondern durchaus auch geometrische und konstruktive Formen kennt, andererseits das Bestreben dieser von Claudia Banz als „erste Designerkooperative“ bezeichneten Gruppe, sich schon damals mit einem unverwechselbaren Branding am Markt zu behaupten versuchte.
Höhepunkt bleibt freilich der Pariser Saal, der jetzt durch eine geschickte Licht- und Farbregie viel wirksamer als früher in Szene gesetzt worden ist. Erst jetzt kommt zum Beispiel das wunderbar zarte Bleiglasfenster des ursprünglich für das noble Hotel Gallia in Nizza bestimmten Erkerzimmers richtig zur Wirkung. Vielleicht nirgendwo sonst ist die Jugendstil-Idee, nach der der Wohnraum eine Bühne des Lebens zu sein hat, so überzeugend zu erleben wie in diesem weltweit wohl einmaligen Raumkunstwerk.
Jugendstil. Die große Utopie Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz, 17.10. 2015–7.2.2016, Di–So, 10.00–18.00, Do bis 21.00 , Katalog 24,90