Hamburg . Eröffnung des Hamburger Theaterfestivals mit starken Darstellerinnen in düsterer „Herbstsonate“. Freud hätte es gefallen.
Am Schluss versuchen sie doch noch von früher zu reden. Der Rotwein hilft. Sie sprechen von der Kindheit, der Zahnspange, der Kurzhaarfrisur, den Büchern, den Erinnerungen an die berühmte Mutter: eine Konzertpianistin, die für ihre um Liebe bettelnden Kinder nur kurze Heimgastspiele gab. Voller Zerknirschung fleht die Mutter die Tochter an, krampfhaft und gefangen in der eigenen Schuld bettelt sie um Erlösung.
Der Schwede Ingmar Bergman hat seinen Figuren nichts geschenkt im Film „Herbstsonate“ (1978). Theaterregisseur Jan Bosse zeigt dieses desaströse Mutter-Tochter-Verhältnis auf der Bühne als Schlagabtausch zwischen Corinna Harfouch als Mutter Charlotte und Fritzi Haberlandt als Tochter Eva. Hochmütig, selbstverliebt und abwehrend die eine – liebesunfähig, resigniert die andere. Diese Szene des Gastspiels, einer Koproduktion vom Schauspiel Stuttgart und dem Deutschen Theater Berlin, ist der Höhepunkt eines starken Auftakts des Hamburger Theaterfestivals.
Ab dem Zitronenhuhn geht es bergab
Moritz Müllers verschachtelter Drehbühnenturm offenbart ein Labyrinth aus ins Nichts führenden Treppen und trostlosen Kammern. Eine beklemmende Pfarrhausenge, in der Eva mit dem duldsamen Viktor (Jörg Pose) lebt. Viktor weiß, dass Eva keine Gefühle für ihn hat. Zu angekettet ist sie auch als Erwachsene an die Mutter. Mit dem Unfalltod des vierjährigen Sohnes ging das fragile Familienglück endgültig dahin.
Nun ertränkt der Pastor seinen gewachsenen Gotteszweifel im Whisky. Eva geistert als Gefühlskrüppel durchs Haus, schlechter noch erging es ihrer hochsensiblen, jetzt kranken Schwester Helena (Natalia Belitski), von Eva aus dem Pflegeheim befreit, in das Charlotte sie verbannte.
In diese schwarz verhangene Totenstarre hinein donnert nun also der Hurrikan Charlotte im hellen Sommeranzug von Kostümbildnerin Kathrin Plath. Sieben Jahre haben sich Mutter und Tochter nicht gesehen. Noch haben beide die Hoffnung, dass endlich alles gut wird. Das abendliche Zitronenhuhn ruft die erste Krise hervor. Und ab da geht es unaufhörlich bergab.
Sigmund Freud hätten die Bilder gefallen
Jan Bosse verlegt das Geschehen in ein gespenstisches Zwischenreich voller unbehauster Zombies. Da wandert großäugig das tote Kind herum, Helena bemächtigt sich ihrer Mutter im Schlaf, und in einer der zahlreichen von Meika Dresenkamp auf Video gebannten Szenen zerbricht die Einrichtung wie bei starkem Seegang und krallt sich in eine Zimmerecke. Sigmund Freud hätten die starken hyperrealen Bilder gefallen.
Die Abwärtsschleife und die wachsenden Gefühlsausbrüche wären für den Zuschauer durchaus grenzwertig, wenn die erstklassigen Darstellerinnen nicht wären: Corinna Harfouch gibt eine lebenssatte, einsame, am eigenen Künstlerinnensaft berauschte Diva. Sich die Haare raufend, polternd, rasend gleicht sie einem entfesselten Raubtier. Anders Fritzi Haberlandt als Eva im schwarzen Spitzenkleid mit geflochtenem Riesenzopf, momentweise görenhaft kess wie zu unvergesslichen Hamburger Zeiten, dann wieder abgeklärt ohne Gefühlsregung.
Das verkorkste Verhältnis dokumentiert am eindringlichsten die Szene, in der Eva Charlotte ein Prélude von Chopin auf dem Flügel vorspielt. Eine Schlüsselszene, von Bosse überlebensgroß per Live-Video auf einen Gazevorhang gebannt. Das Urteil der Mutter fällt erwartungsgemäß vernichtend aus: zu sentimental, zu wenig schmerzensreich sei das Spiel.
Fritzi Haberlandts Eva ist wehrhaft, wütend und wenig gefühlsduselig
Mit der Nahaufnahme arbeitete auch Ingmar Bergman, bei ihm schritten Ingrid Bergman und Liv Ullmann mit minimaler Gesichtsmimik zur Generalabrechnung. Wobei Ullmann neben der strengen Bergman ein hoffnungslos larmoyantes Opferlamm abgab – dem damaligen Frauenbild entsprechend. Fritzi Haberlandts Eva ist anders. Wehrhaft, wütend und wenig gefühlsduselig. Es sind brutale Gespenster, die Bosse hier frei lässt. Und häufig ist der Stoff mehr Horrorstreifen als Familiendrama. Das Elend wird gelegentlich überstrapaziert, wenn sich Eva in Erinnerung an einen Seelenklempner einen Brieföffner in die Körpermitte rammt und ihn anschließend schreiend gegen die Mutter wendet. Wenn die Mutter bedeutungsschwanger über die Treppe stolpert und sich mit den eigenen Fäusten malträtiert.
Am Schluss stehen sich beide in langen schwarzen Nachthemden gegenüber. Wissend, dass es aus dieser Mutter-Tochter-Hölle kein Entrinnen gibt. Charlottes jaulende Sätze schneiden wie ein Rasiermesser: „Ich sah, dass du mich liebtest“, sagt sie. „Aber ich konnte dich nicht lieben. Ich wollte nicht deine Mutter sein.“ Jetzt pfeift sie auf jede Selbsterkenntnis. „Es gibt keine Vergebung“, entgegnet die Tochter. Auch der abschließende Brief dürfte keine Versöhnung bringen. Familie als Geisterstunde – und doch eine Sternstunde des Theaters.
Hamburger Theaterfestival bis 9.11., diverse Spielstätten, Karten von 19 bis 79 Euro im Vvk.;
www.hamburger-theaterfestival.de