Hamburg. “Für mich war er einer der am meisten gebildeten Menschen, die ich kenne. Und er vergaß nichts!“ Ulrich Wickert über Hellmuth Karasek.

Für das Hamburger Abendblatt hat der Journalist und Autor Ulrich Wickert einen persönlichen Nachruf auf den verstorbenen Hellmuth Karasek geschrieben. Lesen Sie hier diesen besonderen Text:

"Jetzt kann ich mich beruhigt verabschieden“, sagte Hellmuth Karasek vor einigen Monaten, „denn ich habe erlebt, dass mein Sohn den Beginn der Ouvertüre des Figaro für mich um fünfzehn Minuten verschieben kann.“ Ganz so ernst wird er es nicht gemeint haben, nach dem von ihm häufig zitierten Motto, das er einer Karikatur aus dem Reportagemagazin „The New Yorker“ entlehnt hatte: ein Mann fällt aus dem hundertzwanzigstem Stock eines Wolkenkratzers und sagt in der Höhe der vierzehnten Etage: „Bis hierhin ist noch alles gut gegangen.“

Die Ouvertüre verschieben? Hellmuth Karaseks Sohn Daniel ist Generalintendant des Theaters in Kiel und hat im Frühjahr eine viel gelobte Inszenierung von Mozarts Oper „Die Hochzeit des Figaro“ auf die Bühne gebracht. Vater Hellmuth ging in den letzten Jahren immer weniger gern ins Theater, weil man da so schlecht sitzt, sagte er. Aber vermutlich hatte er auch andere Gründe. Doch die Inszenierung von Daniel wollte er sehen – und hören. Zumal er Mozart über alles liebte. Sohn Daniel holte den Vater mit dem Auto in Hamburg ab. Aber auf der Fahrt nach Kiel hielt sie ein Stau auf. „Macht nichts“, sagte Sohn Daniel zu Vater Hellmuth, „dann kommst Du eben nach der Ouvertüre an.“ Darauf lautete die trockene Antwort: „Da kannst Du gleich zurückfahren.“ Ich vermute, er hat es so gesagt, dass Daniel ihn ernst nahm. Bei Hellmuth Karasek wusste man das nie so genau. Auf jeden Fall griff der Generalintendant zum Telephon und ließ den Beginn des Abends um eine Viertelstunde verschieben.

Nun wäre es falsch aus dieser Anekdote den Schluss zu ziehen, Hellmuth Karasek sei ein hochmütiger Mensch gewesen. Im Gegenteil! Ich habe ihn immer wieder dafür bewundert, wie demütig er, der Star, sein konnte, wie er sich zurücknahm, selbst wenn er gern über sich redete, aber meist erzählte er dann, was ihm Dummes widerfahren war. Und da Hellmuth Karasek in den letzten Jahrzehnten häufig zu Lesungen unterwegs war, konnte es in der Bahn oder in Hotels zu allerhand Missverständnissen kommen.

In Wismar bat er die Dame an der Rezeption, ihm ein Taxi zum Bahnhof zu bestellen. „Ja, sofort Herr Karadzic!“ sagte sie. Karasek war zu bescheiden, um sie zu korrigieren. Herr Karadzic hier, Herr Karadzic dort, bis er schließlich das Hotel panisch verließ, weil das Taxi nicht kam.

Günter Grass und Hellmuth Karasek – ein besonderes Kapitel

Noch peinlicher war ihm eine andere Verwechslung. Karasek stieg in Görlitz in einen Zug Richtung Berlin. Der Schaffner, der ihm einen Kaffee brachte, fragte: „Kann es sein, dass ich Sie kenne?“ Als festes Mitglied des Literarischen Quartetts im ZDF und häufiger Gast in anderen populären Fernsehsendungen, waren sein Gesicht und seine markante Stimme bekannt. Karasek nickte. Der Schaffner fragte nach einer Autogrammkarte. Leider nein. So etwas hatte er nicht dabei. Später kam der Schaffner wieder vorbei mit der Frage, ob es ihn überrascht hätte, den Nobelpreis zu erhalten. Karasek: „Oooch.“ Aber gefreut hätte er sich doch sicher? „Ooooch.“ Die Fahrt von Görlitz nach Berlin ist lang. Hellmuth Karasek denkt über den Schaffner nach, ob der jetzt damit prahlt, dass Günter Grass im Zug sitze. Schließlich macht sich der Autor auf, den Schaffner zu suchen. Findet ihn im Schaffnerabteil und sagt: „Sie haben mich verwechselt. Ich bin nicht Günter Grass.“ Antwortet der Schaffner: „Das weiß ich inzwischen auch, Herr Kasarek.“ Kasarek!

Günter Grass und Hellmuth Karasek sind ein besonderes Kapitel. Ich betrachtete Hellmuth und seine Frau Armgard als unsere Freunde, aber ich war auch mit Grass und seiner Frau Ute befreundet. Grass aber weigerte sich zu Einladungen zu kommen, zu denen auch Hellmuth Karasek geladen war. Das war nicht immer so gewesen. Aber eines Tages bat die Illustrierte „Die Bunte“ Hellmuth um eine Liste der zehn schlechtesten Bücher. Das nahm er nicht ernst. Führte einen praktischen Ratgeber an „Elektroarbeiten im Haushalt selbst - leicht gemacht“ mit der Begründung: schlecht, weil er dem Buch geglaubt hat. Er setzt Stalins Band „Theorie der Sprache“ darauf, Hitlers „Mein Kampf“ und – ja, später bereut er es ein wenig – „Die Rättin“ von Günter Grass. Begründung: „Weil ich sie gerade jetzt lesen muss“. Der Sturm bricht los: Grass darf man nicht mit Hitler vergleichen.

Schon als Schüler ein aufgewecktes Kerlchen

Von wegen Hitler. Den hat er auch gesehen und angeblich zu seiner Mutter gesagt, der habe so wunderbare blaue Augen. Hellmuth Karasek war 1934 als eines von fünf Kindern im mährischen Brünn auf die Welt gekommen. Doch 1938 floh die Familie nach Wien, weil der Vater von der tschechoslowakischen Regierung zum Militärdienst eingezogen worden war. Vater Karasek wollte aber nicht gegen die Deutschen kämpfen. Und vor dem Hotel Imperial in Wien stand dann die Mutter mit ihrem kleinen Hellmuth und wartete inmitten einer Menschenmenge darauf, dass der Führer auf den Balkon treten würde. Die wunderbaren blauen Augen konnte der kleine Junge wahrscheinlich gar nicht sehen, aber alle Welt sprach seinerzeit darüber. Die Familie kehrte zurück, floh aber wieder 1944, diesmal vor der Roten Armee nach Bernburg in Sachsen-Anhalt.

Hellmuth Karasek war als Schüler schon ein aufgewecktes Kerlchen. Er kam für kurze Zeit sogar in eine Napolaa, eine nationalsozialistische Eliteschule, machte in Bernburg (DDR) als bester Schüler das Abitur und ging nach Tübingen studieren.

Für mich war er einer der am meisten gebildeten Menschen, die ich kenne. Er hatte ein phänomenales Gedächtnis, immer wieder überraschte er mit Zitaten oder Hinweisen auf Autoren und der Kenntnis ihrer Werke. Und er vergaß nichts!

Nach dem Studium ging er zur „Stuttgarter Zeitung“, war kurze Zeit Chefdramaturg am Theater in Stuttgart, wurde Theaterkritiker bei der „Zeit“ in Hamburg und wechselte schließlich zum „Spiegel“, wo er über zwanzig Jahre lang das Kulturressort leitete. Dreizehn Jahre lang begleitete er Marcel Reich-Ranicki im „Literarischen Quartett“, und spätestens hier wurde er dem breiten Publikum in der Bundesrepublik bekannt. Denn neben dem häufig bärbeißigen Reich-Ranicki brillierte Karasek mit geistreichen Pointen. Er liebte es, Witze zur erzählen, behielt sie meistens auch und füllte mit ihnen schließlich zwei Bücher.

Wo er saß, stand oder lag, konnte er schreiben

Hellmuth Karasek und ich veröffentlichten Bücher im gleichen Verlag und teilten uns eine legendäre Lektorin. Aber was er konnte, dazu war ich unfähig. Wo er saß, stand oder lag, konnte er schreiben. Auf dem Weg von einer Lesung zur anderen saß er im Zug und schrieb. Und zwar immer mit der Hand. Ich benötige dazu die Ruhe einer Schreibstube. Er dagegen war in der Lage, Texte, wenn es sein musste, druckreif zu formulieren.

Diese Gabe hat ihn einmal sogar gerettet.

Er war gerade bei der “Zeit“ als Theaterkritiker angekommen und fuhr an einem Montag nach Berlin zu einer Premiere. Nach der Aufführung zog er mit dem Ensemble zur Feier in ein Lokal namens „Tattersaal“, genoss die Nacht und den Alkohol und fiel gegen sechs Uhr morgens betrunken ins Hotelbett. Er hatte allerdings vergessen, dass die „Zeit“ am Donnerstag erscheint und deshalb seine Besprechung der Aufführung spätestens am Dienstagmittag vorliegen musste. Er hatte gerade zwei Stunden geschlafen, da läutete die Redaktion an. Ob er jetzt seinen Text durchgeben könne? Es war die Zeit, wo Autoren ihre Artikel einem Stenographen in der Redaktion am Telefon diktierten. Hellmuth Karasek sagte, er werde in zehn Minuten zurückrufen, suchte das Programmheft, schaute es durch und diktierte eine Besprechung der Premiere, so als stünde der Text auf einem vor ihm liegenden Blatt Papier.

Als er zum 125. Jubiläum der Berliner Philharmoniker eingeladen ist, erscheint er rechtzeitig und gönnt sich, wie so häufig, ein Gläschen Champagner vor der Festveranstaltung. Da nähert sich ihm eine Journalistin und fragt, ob er ihr eine Kopie seiner Rede geben könne. Welche Rede? Nun, er werde doch gleich die Einführung in das Jubiläum halten. Da hat er wohl ein wenig geschwitzt, denn in Musik war er nicht ganz so bewandert wie in der Geisteswelt. Aber seine Kreativität und Spontanität haben ihn auch da nicht im Stich gelassen.

Weit mehr als ein Literaturkritiker

Wer ihn als einen Literaturkritiker bezeichnet, wird der Bandbreite seines Schaffens nicht gerecht. Er war Autor und Kritiker gleichzeitig. Er schrieb Theaterstücke, Sachbücher, Unterhaltendes und Ernstes und auch einen Roman. Stolzer als auf seine eigenen Bücher war er jedoch, als seine Tochter Laura einen erfolgreichen Roman veröffentlichte. Allerdings erst, nachdem sie auf Vaters Rat hin Rechtsanwältin geworden war.

Aus seiner Arbeit wuchsen ihm drei Bezugspersonen zu, die ihn Zeit seines Lebens beeinflussten, auch nachdem alle drei nicht mehr lebten. Zum Ersatzvater erkor er Billy Wilder, über den er ein erfolgreiches Buch schrieb. Der Zweite war Rudolf Augstein, der legendäre Gründer und Chef des „Spiegel“ und schließlich Marcel Reich-Ranicki, der Leitwolf des Literarischen Quartetts.

Manchmal trafen wir uns sonnabends früh zufällig beim Metzger, und er erzählte mir, wieviel Suppenfleisch er jetzt kaufe. Und dann stand er stundenlang in der Küche, manchmal mit seinem Sohn Niko (heute erfolgreicher Journalist beim ZDF). Er kochte hervorragend, aber immer schwer und nahrhaft, wie es Leute aus der Kriegsgeneration noch gewohnt sind. Man muss nicht nur genießen, sondern auch satt werden.

Wir konnten uns auch in Südfrankreich bei seiner Schwester Ingrid und seinem Schwager Jean-Louis treffen. Sie stellen einen hervorragenden Wein her, Rouge wie Rosé und hinter dem Haus wächst unter einem alten Baum ein Trüffelfeld. Da kamen auch schon mal die Coppolas vorbei, denn Ingrids Sohn Thomas, also Hellmuths Neffe, ist nicht nur der Sänger der Band Phoenix, sondern hat auch mit Sophie Coppola zwei Kinder.

Er entschied für sich, was wirklich wichtig war

Als Hellmuth nun plötzlich krank war, sagte Julia, meine Frau: „Hoffentlich hat er noch die fünf Tore von Lewandowski gesehen!“ Nein, das hat er nicht mehr. Aber Fußball gehörte auch zu seinen Leidenschaften. Wir haben viele Spiele bei Weltmeisterschaften zusammen gesehen. Und als ich während der Weltmeisterschaft in Brasilien eine Lesung an der Bonner Universität hatte, ausgerechnet am Abend des Viertelfinales Deutschland gegen Frankreich, verabredete Julia sich mit Hellmuth und seiner Frau Armgard zum Fußballschauen. Aber Hellmuth sollte in der Nacht wegen einer Untersuchung im Krankenhaus übernachten.

Kaum hatte das Spiel begonnen, erschien er mit allerhand Schläuchen an den Armen: er wollte das Spiel auf keinen Fall verpassen. Er entschied eben für sich, was wirklich wichtig war. Und sei es ein Viertelfinale, sei es die Ouvertüre von Figaros Hochzeit.