Hamburg. In der Staatsoper wurden die 41. Ballett-Tage mit einer Neubearbeitung von „Peer Gynt“ glanzvoll eröffnet.

Henrik Ibsens „Peer Gynt“ ist eine literarisch-spirituelle Schwerverdaulichkeit ersten Ranges. Halb Faust, halb Don Quijote, halb gereimter Schelmenroman, halb Initiationsgeschichte. Eine oft raunende, mal tief weise, stellenweise abgründig lustige nordische Wüsten-Groteske, ein überlanges Versepos, das an vielen Schauplätzen spielt und allzu viel Unmögliches auf einmal will.

Ein Choreograf, der sich dieses verlockenden Ungetüms annimmt, braucht besondere Kühnheit. Wie soll ein derart auf Text, auf Witz im Wort gegründetes Stück abseitigster Weltliteratur im Tanz funktionieren, der sprachlosen Kunst reiner Bewegung? John Neumeier hat das absurd scheinende Unterfangen nun bereits zum zweiten Mal auf sich genommen. Die Wiederaufnahme seines 1989 uraufgeführten Balletts „Peer Gynt“, damals ein Auftragswerk an den deutsch-russischen Jahrhundertkomponisten Alfred Schnittke, erhob er jetzt zur Eröffnung der 41. Ballett-Tage am Sonntag in der Staatsoper in den Rang einer veritablen Premiere. Und auch wenn der Applaus, am Hamburger John-Neumeier-Begeisterungsstandard gemessen, eher verhalten ausfiel: Dieser „Peer Gynt“ gehört zum Besten, was John Neumeier je auf die Bühne gebracht hat.

Neumeier hat die Rollen dem jeweiligen Charakter entsprechend perfekt besetzt

Was alles er im Detail gegenüber der Urfassung verändert hat, ist wohl nur für Balletthistoriker von Belang. Aber dass die Hauptfigur nunmehr in einer Entourage von vier statt sieben sogenannten Aspekten, die jeweils von einem Tänzer verkörpert werden, durchs Leben zieht – Unschuld, Vision, Aggression und Zweifel –, erleichtert dem Zuschauer die Orientierung. Und Neumeier hat diese vier Rollen dem jeweiligen Charakter entsprechend perfekt besetzt – mit Aleix Martínez, Alexandre Riabko, Karen Azatyan und Marc Jubete. Zum Zeichen, dass diese Aspekte die energetische Disposition des Menschen von Anfang an bestimmen, bringt die wunderbar langgliedrige Anna Laudere als Peer Gynts Mutter Aase ihren einzigen Jungen gleich mit seinen vier Aspekten auf die Welt.

Schon dieser Geburtsvorgang aus dem bodenlangen roten Kleid der Laudere, die im Lauf der Aufführung immer wieder schönsten Gebrauch von ihrem wasserfallartig fließenden Haar macht, ist die reine Augenweide. Vom ersten Moment an ist da eine gewisse Uneindeutigkeit zwischen Spiel und Begehren beim vervielfältigten Peer und seiner Mutter, herrscht etwas latent Inzestuöses zwischen ihnen. Carsten Jung verkörpert diesen ungeschlachten, vitalen, anhänglichen Charakter mit phänomenaler Präsenz. Er bewohnt den Peer Gynt mit seinem ganzen Wesen und gibt ihm all die notwendigen Zwischentöne zwischen naiv Draufgängerischem und Zartheit, Großmannssucht und Unsicherheit.

Alina Cojocaru als Solveig strahlt mit ihrem Ernst und ihrem sehnigen Leib, der in einem einfachen weißen Leinenkleid steckt, eine anrührende Schlichtheit aus. Cojocaru hat nichts von einer glamourösen Primaballerina; in dieser ungewöhnlich einprägsamen Bühnenkünstlerin tanzt eine vom Ballast des Egos weitgehend befreite Seele. Allein dadurch, wie sie ihre Füße setzt, kann sie uns alles über Entsagung und Hingabe an die Liebe zeigen.

So intim und nachvollziehbar auch dem literarisch unvorbereiteten Zuschauer Prolog und erster Akt erscheinen mögen: Der zweite Akt mit seinen grellen, ironischen Showbusiness-Anklängen danach kommt fast wie ein Schock. Lloyd Riggins überrascht in einer komischen Rolle als Choreograf, der bei einer Audition blitzschnell und unbarmherzig die Tänzerspreu von dem trennt, was er für Weizen hält. Epochen der amerikanischen Show-Geschichte blitzen auf wie in einer billigen Revue, es wird turbulent bis zur Unübersichtlichkeit. Neumeier bündelt die multiplen Identitäten des Peer Gynt – Sklavenhändler und Businessman, Prophet und mindertalentierter Historiker – und überträgt sie in ein Ambiente, das nach einem kostengünstig gezimmerten Hollywood aussieht und wohl auch genauso aussehen soll.

Nach diesem Episodenknäuel in der äußeren Welt kehrt die Choreografie wieder zur Behutsamkeit und ins Innerliche zurück. Peer Gynt, Spätheimkehrer aus einem vertändelten Leben, sieht sich als Jedermann im Grau der Trollwelt, von der aus er einst in die Welt hinausfloh. Solveig, blind und fern auf einem Bergpodest seiner harrend, erkennt ihn, den Einzigartigen, im Gewöhnlichen, das er ist unter all den anderen Gewöhnlichen, und macht ihn sich unverwechselbar nackt. Das ist sehr anrührend getanzt, und die durchweg großartige Musik – glanzvoll gespielt von den Philharmonikern unter der Leitung von Markus Lehtinen – mit dem irisierenden Endlos-Chor tut zur Apotheose das Ihre dazu.

Doch die anhaltende Langsamkeit des Epilogs ist heikel, denn sie geht den fabelhaften Tänzern, die sich bereits zwei Stunden lang verausgabt haben, sichtbar an die Substanz. Da zittern Muskeln und zeigen sich deutliche Spuren der Erschöpfung. Aber vielleicht hat auch das seinen höheren Sinn. Am Ende seiner Kräfte wird auch der himmlischste Tänzer zum Erdenmenschen, anfällig und fehlbar, einer wie du und ich.

41. Ballett-Tage bis 12.7., Karten: T. 35 68 68