Seit 30 Jahren schreibt die Hamburgerin Kirsten Boie für kleine und größere Kinder – spannende und lustige, traurige und märchenhafte Bücher. Damit die jungen Leser fremde Welten und eigene Gefühle entdecken können
Neulich hat Kirsten Boie, 64, mal wieder vor einer Schulklasse gelesen. Es war bundesweiter Vorlesetag, und die Hamburger Kinderbuchautorin hat den kleinen Schülern in einer Grundschule in Jenfeld erklärt, dass jetzt gerade überall in Deutschland viele Erwachsene den Kindern aus ganz verschiedenen Büchern etwas vorlesen. Prominente Leute seien darunter. Und sie alle würden zur gleichen Zeit in Tausenden deutschen Klassenzimmern mit den Kindern ganz viele spannende Geschichten lesen. Schauspieler, Politiker, Schriftsteller, Sportler. Das sei doch toll und etwas ganz Besonderes. Da hat sich ein kleiner Junge gemeldet und Kirsten Boie gefragt: „Wieso kriegen die anderen Kinder einen Fußballer als Vorleser und wir eine Oma?“
Kirsten Boie lacht laut, als sie die Geschichte erzählt. „Zu schön“, sagt sie. Sie liebt die Kinder. Deswegen schüttet die Hamburgerin seit 30 Jahren ihre Geschichten über die kleinen und etwas größeren Leser aus. Lustige und spannende, märchenhafte und traurige. Voller Fantasie, voller Humor, voller Sprachenzauber. Wie eine gute Fee.
Schuld ist im Grunde das Jugendamt in Bad Oldesloe. Als Kirsten Boie und ihr Mann 1983 ein Kind adoptieren wollten, hieß es aus der Behörde: „Dann können sie jetzt aber nicht mehr Lehrerin sein.“ Kirsten Boie hatte an der Hamburger Universität Deutsch und Englisch studiert. Und als Lehrerin zuerst am Gymnasium in Rahlstedt und dann an der Gesamtschule in Mümmelmannsberg gearbeitet. Nun sollte sie von Amts wegen zu Hause bleiben. „Ich habe meinen Beruf geliebt, da fehlte jetzt etwas, mein Lebensentwurf war mit einem Mal durcheinandergeraten.“
Sie beschloss, mit dem Schreiben anzufangen. Auch, um etwas Geld zu verdienen. Heftromane sollten es eigentlich werden. Was mit Komtessen und Grafen, Liebe und Abenteuer. Als sie dann aber ihren kleinen Sohn in den Armen hielt und fütterte, haben sie die Sätze einfach überrollt, sagt sie. „Paule ist ein Glücksgriff“ erschien 1985, es wurde sofort ein großer Erfolg. Aus der Lehrerin Kirsten Boie war die Kinderbuchautorin geworden. Dank Paule.
„Ich habe damals nur die ersten drei Kapitel geschrieben und diese an fünf Verlage geschickt.“ Die Adressen hatte sie sich am Hauptbahnhof aus einem Telefonbuch rausgeschrieben. Schon am nächsten Tag hat sich der Oetinger Verlag gemeldet. Ihm ist sie bis heute treu geblieben. „Auch die anderen Verlage haben, bis auf einen, sehr schnell geantwortet.“ Paradiesische Zeiten für Autoren waren das. „Aber es lag natürlich auch an dem Thema Adoption, dass das Buch auf so großes Interesse gestoßen ist“, sagt Kirsten Boie.
Aus einem Buch wurden in drei Jahrzehnten mehr als achtzig. Sie erzählen von Seeräubermoses und dem kleinen Ritter Trenk, von dem Jungen, der Gedanken lesen kann und dem kleinen Piraten. Von Abenteuern im Möwenweg und von King-Kong, dem Krimischwein. Vom Angst-Haben, vom Cool-Sein, vom Verletzt-Werden. Die Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit Preisen bestückt worden. Und sie lassen keine Zweifel daran, wo die Autorin, die 2007 für ihr Gesamtwerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet worden ist, steht: auf der Seite der Kinder.
Sie war selbst noch ein Kind, als sie mit dem Schreiben angefangen hat. „Ich habe mir immer Geschichten ausgedacht und sie mit sechs, sieben Jahren auf Butterbrotpapier aufgeschrieben.“ Sie kommt aus einem bildungsorientierten Haus. „Wir hatten ganz viele Bücher.“ Sie war wild entschlossen, später einmal große Weltliteratur zu schreiben. Als ihr mit 15 Jahren klar wurde, dass man vom Schreiben in der Regel nicht seine Miete und sein Essen bezahlen kann, gab sie den Berufswunsch auf.
Es wurden dann also Kinderbücher. Kirsten Boie erzählt gern, dass bei Schullesungen gefühlt jeder zweite Lehrer sagt, er hätte auch längst ein großartiges Kinderbuch geschrieben – wenn er nur die Zeit dafür hätte. Sie kennt das interessierte Gesicht des Gegenübers, wenn sie auf Partys sagt, sie sei Autorin. Und das milde Lächeln, wenn sie hinzufügt, sie schreibe Bücher für Kinder. Es scheint für viele immer noch eine Art literarisches Gesetz, dass es für Kleine nur kleine und für Große nur große Literatur geben kann. Das ist natürlich ziemlicher Tüdelkram.
Und es ärgert sie auch nicht mehr. Weil sie ja weiß, dass nur aus kleinen Lesern irgendwann auch große werden können. Und deswegen ist das eigentlich ihr wichtigstes Thema geworden: Was passiert mit Kindern, die lesen. Und mit denen, die nicht lesen?
Kirsten Boies Kollegin Cornelia Funke hat einmal den Vorwurf, das Lesen wäre eine Flucht aus dem Leben, mit dem Satz gekontert: Wer denn wohl etwas gegen eine Flucht haben sollte, außer dem Kerkermeister? So sehr ihr dieser Satz gefalle, sagt Kirsten Boie, er greife zu kurz. „Lesen ist nämlich in Wirklichkeit alles andere als eine Flucht. Lesen ist Entdeckung.“ Sie kennt das ja von sich selbst. Wenn sie für ihre Eltern nur schwer erreichbar war, weil sie gerade in der Prärie oder in Emils Berlin der 20er-Jahre unterwegs war. Wenn sie mit Kalle Blomquist einen Mord aufdecken und mit den fünf Freunden verbrecherischen Wissenschaftlern in Höhlen tief unter der Irischen See das Handwerk legen musste.
Für sie ist durch die vielen Bücher die Sprache zu einem Instrument geworden, mit dem sie souverän umgehen kann. Ein Problemlöser auch, der aber den Kindern nicht mehr zur Verfügung stehe, denen die Worte fehlen. Kirsten Boie zitiert den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein, der gesagt hat: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Genauso gerne erzählt sie die fiktive Geschichte von zwei Jungen. „Nennen wir sie Heinrich und Justin.“ Heinrich wird schon als Baby viel vorgelesen. Dann sitzt er auf dem Schoß von Mama und Papa und guckt Bilderbücher. Er beißt in die Seiten und erfährt Nähe und Zuwendung. Verlässlich und gemütlich. Jeden Tag vielleicht für eine halbe Stunde. „Für Bücherbabys ist ein Buch später ein Anblick, der Freude auslöst, und kein Lerngegenstand, vor dem sie Angst haben“, sagt sie. Untersuchungen in vielen Ländern hätten längst erwiesen, dass diese Kinder in der Schule einen leichteren und fröhlicheren Zugang zum Lernen hätten.
Heinrich ist in den Geschichten später auch immer ganz vielen Gefühlen begegnet. Die Königin ist traurig, der König wurde rot vor Zorn, die Verzweiflung verschlug dem kleinen Drachen den Atem. „Ein Gefühl, das ihn umtreibt, kann Heinrich benennen und sich aktiv mit ihm auseinandersetzen“, sagt Kirsten Boie. Und er könne sich in andere einfühlen. „Dass der regelmäßige Aufenthalt in fremden Köpfen Leser empathischer macht, erscheint mir logisch“, sagt sie.
Und Justin? „Ein Kind, das seine Gefühle nur fühlt, ohne einen Namen für sie zu wissen, ist dem brodelnden Chaos ausgeliefert.“
Nun lösen auch Filme oft starke Gefühle aus. „Das stimmt“, sagt Kirsten Boie. Und dann kommt ein großes Aber: „Die Figuren im Film sind immer fertige Menschen.“ Im Buch dagegen müssen aus den kleinen schwarzen Zeichen auf weißem Papier erst Figuren und Orte entstehen. Und das geht nur, wenn die eigene Gedankenwelt ins Spiel kommt. Die eigenen Erfahrungen, Gefühle und Erinnerungen. „Obwohl alle Leser das gleiche Buch in der Hand halten, entsteht in jedem Kopf bei der Lektüre ein ganz eigenes Buch“, sagt Kirsten Boie. Der Text eines Buches sei deshalb immer mindestens ebenso sehr der Text des Lesers wie der des Autors. Und die großartige Leistung des Lesens bestehe darin, dass man sich immer auch mit sich selbst auseinandersetzen muss, um zu entdecken, was im Buch steht. „Das kann kein anderes Medium“, sagt Kirsten Boie. „Und deshalb ist das Lesen, das behaupte ich einfach, jedes Mal wie eine kleine Psychotherapie.“
Seit Jahren ist Kirsten Boie Schirmherrin der Aktion „Buchstart“
Justin bleibt diese Chance verwehrt. Ihm ist zu Hause nicht vorgelesen worden. Und wenn er in die Schule kommt, will das mit dem Lesen einfach nicht klappen. All diese komischen Zeichen. Ein A, ein P, ein F, ein E, ein L. Und die soll man auch noch zusammenziehen. Manche Kinder in der ersten Klasse können schon nach den ersten beiden Buchstaben erkennen, wie das ganze Wort heißt. Justin kann das nicht. Wenn er beim L angekommen ist, hat er das A schon wieder vergessen. Er ist zornig auf die Bücher. Bücher sind überhaupt nicht cool. Und die richtig Coolen in der Klasse finden Lesen auch peinlich.
Wie aber – und genau darum geht es Kirsten Boie – erreichen die Autoren Kinder wie Justin? „Wir sorgen zum Beispiel dafür, dass nicht die Kinder zur Lesung kommen müssen, sondern dass die Lesung und die Bücher zu den Kindern kommen.“ Kirsten Boie kann nicht nur sehr anschaulich über das Lesen als Schlüsselqualifikation in unseren digitalen 3D-Zeiten reden – sie ist seit Jahren tatkräftige Unterstützerin und Schirmherrin der Aktion „Buchstart“, die nun ihr achtjähriges Bestehen feiert (siehe Infokasten). „Wer mit seinen Kindern Bücher ansieht, gibt ihnen etwas Unersetzliches für ihr ganzes Leben mit“, sagt sie. Geborgenheit und Spaß, Spannung und Trost.
Ganz wichtig findet sie, dass dabei die Verteilung der Bücher über die Kinderärzte in Hamburg erfolgt. „Die Ärzte sind für die Mütter und Väter eine Autorität. Und es ist etwas ganz anderes, wenn sie den Eltern die ,Buchstart‘-Taschen übergeben, als wenn man ihnen einen Flyer oder einen Prospekt in die Hand drückt, der oft noch auf dem Nachhauseweg im Papierkorb landet.“ Auch „Gedichte für Wichte“, das von „Buchstart“ mit Fachkräften entwickelte Begleitprogramm für die Eltern, sei eine tolle Sache. 60 Gruppen für Kinder bis zu drei Jahren gibt es in Hamburg bereits – in fast allen Stadtteilen. „Gerade für viele Frauen sind diese wöchentlichen und kostenlosen Treffen eine gute Möglichkeit, einmal zu Hause rauszukommen und Anschluss an eine soziale Gruppe zu finden“, sagt Kirsten Boie.
Seit einem Vierteljahrhundert geht sie in Schulen, die oft in sozialen Brennpunkten liegen, und liest den Kindern Geschichten vor. Wohin treibt die Gesellschaft? „Die Schere geht weiter auseinander“, sagt sie. Früher sei Schule hauptsächlich für Bildung zuständig gewesen. „Heute ist Schule viel stärker auch Erziehung.“
Oft müssten die Kinder dort lernen, wieder „Bitte“ und „Danke“ zu sagen. Und heute, so ihre Beobachtung, gebe es im Gegensatz zu früher schon in der ersten Klasse sehr große Unterschiede bei den Kindern. Da sind die einen, denen man wohl bis abends vorlesen könnte. Die während der Lesung immer weiter nach vorne rutschen. Große Augen, offener Mund, rotes Gesicht. „Bei denen entstehen Bilder im Kopf, das kann man sehen.“ Und die anderen, die es keine zwei Minuten schaffen, der Geschichte zu folgen.
Das will sie nicht akzeptieren, dagegen schreibt sie an. So ist der kleine Ritter Trenk entstanden, als ihr eine Mutter bei einer Lesung gesagt hat: „Ich habe einen fünfjährigen Sohn, Frau Boie, und es ist ganz schwierig, für ihn spannende Bücher zu finden.“
Sie wird sich also weiter jeden Morgen zwischen 7 und 8 Uhr für ein paar Stunden an den Schreibtisch setzen, auch wenn sie müde ist oder mal keine Lust zum Schreiben hat. „Andere müssen ja auch jeden Tag zur Arbeit gehen. Und wenn ich mir jedes Mal das, was ich am Vortag geschrieben habe, noch einmal durchlese, rutsche ich auch schnell wieder in die Geschichte rein.“ Wie findet sie die Sätze? „Die kommen zu mir“, sagt sie. „Es ist oft so, als ob ich etwas aufschreibe, was sowieso schon in meinem Kopf ist.“
Sie wird weiter in ihren Büchern die Probleme, die es in der Welt gibt, benennen. Aber die heile Welt wird sie nicht aus den Augen verlieren. „Am Ende siegt das Gute, das Böse unterliegt, und die Welt ist wieder in Ordnung.“ Am Ende einer Geschichte für Kinder, sagt sie, müsse immer Hoffnung sein.